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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Midgards Blut

 

Epilog (Auszug)

...

Giftige Dämpfe steigen auf, die Erde bebt und die Täler füllen sich mit Steinen, die schon vor langer Zeit in den Himmel geschleudert wurden. Schreie sind zu hören, aber niemand kommt zu den nach Hilfe Rufenden, steht ihnen bei in der Not.

Das kleine Dorf, eines der Letzten in der weiten Ebene, in dem noch Hütten stehen, wirkt wie ausgestorben. Nur ein guter Blick lässt Bewegungen erahnen. Keine bekannten Wesen aus Fleisch und Blut scheinen dort umherzuirren, sondern solche, durch die das Licht hindurchscheint. Trotzdem sehen sie aus, tritt man ihnen gegenüber, wie Menschen, wie eben jene Wesen, die Midgard bewohnen. Kein Gedanke wird verschwendet an den Grund, warum sie nicht mehr in ihrer seit Jahrtausenden gleichen Gestalt zu sehen sind. Wer sollte ihn noch denken, ihm nachgehen, sich fragen? Zu sehr ist jeder mit sich beschäftigt. Keine neue Eruption, kein Regen noch größerer Steine findet einen Widerhall bei jenen, die bisher überlebten.
Die größte Hütte im Dorf strahlt Wärme aus. Ein Wunder fast, denn trotz des vielen Feuers nahe der Berge, der Steine und des Bebens, wirkt alles andere eiskalt. Brennt dort noch ein Feuer? Wer sollte es am Leben erhalten? Saigard, die Hüterin des Hauses, tut es seit Tagen. Sie behielt ihre Gestalt, traut sich jedoch nicht mehr vor die Tür, versteht es jedoch, alle, die sie noch zu greifen und zu befehlen vermag, um sich zu scharen und ihnen Aufgaben zu übertragen. Kaum einer ist unter all jenen, der ihr nicht gehorcht. Denn sie ist die Tochter des Führers. Nie traf sie falsche Entscheidungen und selbst jetzt, da noch mehr nur das eigene Tun und Leben zählt, wagt es keiner in ihrer Umgebung, ihre Entscheidungen infrage zu stellen.
"Folkward hat Schmerzen. Bringt ihm einen Tee!"
Sofort laufen zwei Mädchen, deren Körper man nur noch schwer zu erkennen vermag, in die Ecke mit den Vorräten, suchen heraus, was sie benötigen, schöpfen aus dem Brunnen in Hüttenmitte und setzten den Kessel wenig später auf die offenen Flammen, die hier drinnen die Wärme spenden.
"Es ist gut, Vater. Es ist gut. Wir werden Dich erhalten und Deine Schmerzen lindern!"
Fast zu liebevoll tupft die Tochter dem greisen, alten Mann die Stirn, versucht, ihn noch besser zu betten. Doch er mag das nicht. Nicht ihm sollte die Aufmerksamkeit gelten, sondern der Welt da draußen. Denn sie vergeht. Nicht umsonst sah er vor Wochen die Vorzeichen von Ragnarök, dem Untergang, dem Schicksal der Götter.
Er schlürft, verschluckt sich immer wieder, kann nicht an sich halten, muss husten und unter Bestürzung sehen die Bediensteten neben der Tochter, wie sich das Bettuch vor ihm rot färbt, er Blut hustet, das eben noch nicht sicher geglaubte Ende damit bestärkt. Endlich beruhigt er sich wieder, weist die Schale mit einem Teerest zurück. Niemals vorher gestattete Saigard dies, aber jetzt sieht sie keinen Grund, ihn zum Austrinken zu zwingen.
"Höre… Saigard… Tochter…"
Leise sind seine Worte. Fast nichts kann sie verstehen. Vorsichtig, darauf achtend, dass ihre langen, blonden Haare nicht in sein Gesicht fallen, beugt sie sich über ihn, sodass ihr Ohr kaum mehr von seinem Munde entfernt ist.
"Was ist, Vater? Was willst Du mir sagen?"
Stille. Sie spürt, wie ein Zittern durch diesen einst so mächtigen Körper geht, dass er sich nicht beruhigen kann und den Tod schon vor Augen hat. Sie will weinen, kann es jedoch nicht. Der Vater… und sterben? Nein, das ist nicht möglich! Dabei sprach er immer davon. Schon damals, als es zu jenem Verhängnis kam, die Götter nicht mehr wussten, was sie taten, der Bruder den Bruder tötete, weil er einer List erlag…
"Schone Deine Kraft. Das Sprechen strengt Dich zu sehr an!"
Sie weiß, er wird nichts darauf geben und die wenigen Momente, die ihm diese Schonung noch bescheren könnte, will er gern aufgeben, um ein letztes Mal etwas zu sagen.
"Tochter, es war nicht immer so!"
Weit will er ausholen. Er findet nicht die rechten Worte, wundert sich, dass er, der doch stets ohne eine Überlegung und langes Nachdenken eine Rede fast über einen halben Tag halten konnte, nun nicht einmal die schon bereitliegenden Gedanken zu ordnen und auszusprechen vermag. Trotzdem versucht er es.
Draußen donnert es erneut. Das nachfolgende Schlagen zeigt allen an, wie viele Steine schon wieder gen Himmel und von da bald auf die Ebene unterwegs sind. Einen kurzen Moment sehen sie die Helligkeit gar durch die dichten Wände der Rindenhütte. Kaum zu glauben. Wotan steht doch auf ihrer Seite? Oder ist er längst nicht mehr? Diese Welt, die sie zu kennen glaubten, geriet längst aus den Fugen, ist nimmer mehr zu retten, wenn nicht doch noch ein Wunder geschieht. Wer… wer sollte es ihnen nur bescheren? Die Götter wandten sich ab, vergehen mit ihnen, können nichts mehr ändern, ihr eigenes Werk nicht mehr schützen. Und dabei will der Alte nur noch reden, diese kostbare Zeit, die ihnen vielleicht zur Flucht bliebe… vertun. Nein, Saigard besinnt sich. Wohin sollten sie fliehen? Nichts steht ihnen mehr offen, nichts blieb, außer Ragnarök.
"Such den Jungen, Deinen Gefährten. Er kann das Portal öffnen!"
Sie will schreien, doch der Laut bleibt in ihrer Kehle stecken, als sie seine Beine sieht… oder auch nicht. Sie schwinden, sie vergehen. Langsam. Erst war da nur ein Zittern und sie hob seine Decke aus altem Haar der Krono. Da sah sie… nichts. Die Füße… durchscheinend. Immer wieder erlebte sie es in den letzten Stunden der hellen Himmelsscheibe. Nicht in der Dunkelheit, sondern, wenn das Licht auf sie alle fällt. Dann vergehen viele. Einige beim ganz normalen Leben, auch noch, ohne es wirklich zu bemerken, andere, wenn ihre Zeit gekommen scheint. Gut für sie, denn längst gibt es nicht mehr genügend fleißige und helfende Hände, die ihre Körper in die Erde betten und auf Hel vorbereiten könnten… oder wofür auch immer.
Der Junge… der Junge… er verliert sich und denkt an den Jungen. Das ist doch eine fixe Idee! Nein, sie schimpft nicht. Nur mit sich selbst, dass sie Hoffnung in sich trug, noch eine wichtige Botschaft zu erhalten. Aber solch eine kam nicht.
"Der Junge. Ja, sicher. Das Portal… was soll all dies bewirken?"
Erschrocken fahren die Helfer bei ihren Worten herum. Jeder in ihrer Welt kennt die alte Geschichte. Nicht Wotan und seine Götter, sondern ganz andere Wesen erschufen sie einst. Und sie lebten damals nicht hier. Nein, das sind Geschichten, die man den Kindern erzählen mag, die ihnen vielleicht Angst einflößen. Aber doch nicht ihr… nein, das wird sie nicht dulden. Ihrem Vater darum zürnen? Sie kann es nicht. Zu sehr hängt sie an ihm. Er ist… ihr Vater.
"Er weiß es. Er kann nur nicht ahnen, wie er es tun muss!"
Er weiß… was soll dieser Junge denn nur wissen? Und Junge? Sprechen sie vom Gleichen? Der ist längst kein Junge mehr, er ist ein Mann und auch noch einer, mit dem sie… einige Nächte verbrachte, die ihr aber die Augen öffneten, dass sie auf keinen Fall mit ihm leben will und kann.
"Und wie soll ich es ihm sagen? Niemand weiß, wo er ist. Vielleicht starb er schon, wurde nach Asgard versammelt und schaut uns von dort zu? Beruhige Dich, Vater. Niemand kann uns helfen!"
Folkwards Blick wird unendlich müde. Als verstünde er die Ausweglosigkeit der Welt… oder seines Tuns? Fragend schaut ihn seine Tochter an. Er versucht, zu nicken, gar zu schreien, verschluckt sich schon wieder und hustet noch einmal. Eben wollten die dienstbaren Geister die Decke wechseln, doch nun muss sie noch mehr seines Blutes aufnehmen.

Es surrt und schwirrt um sie herum. Erschrocken zuckt Saigard zusammen. Wie kommen die hierher? Ungläubig schaut sie auf die kleinen Wesen. Nein, die darf es hier gar nicht mehr geben. Sie können nicht… sie dürfen nicht einmal hier sein, würden sterben… Diese Temperaturen, die vielen Steine, die Schläge und der nicht enden wollende Donner weisen sie zurück in die Welt des Unwirklichen. Trotzdem landet jetzt solch ein wunderlich-kleines Geschöpf auf Folkwards noch sichtbarer Hand.
Ein tiefes Atmen, ein Aufsaugen der Luft um ihn herum, was jedoch niemandem diese nimmt, geht durch den alten Mann. Gleich erhält sein bleiches Gesicht etwas mehr Farbe zurück. Nicht zu vergleichen mit dem blühenden Leben, welches er stets ausstrahlte. Trotzdem… er schlägt seine Augen auf und Saigard kann nicht anders, muss schreien. Sofort zucken alle anderen in der Hütte zusammen.
"Habt keine Angst, Menschen! Ich bin doch nur Iduna. Und ich kann ihn… nein, dazu reicht meine Kraft nicht mehr aus. Zu viele musste ich heilen in den letzten Tagen. Ein wenig Frische kann ich ihm geben, ihm Grüße bestellen von Wotan und den anderen, die er stets ehrte und vertrat. Aber mehr… na ja, vielleicht hört Ihr ihn wenigstens an?"
Immer noch fassungslos schaut Saigard auf die Albe.
"Ihr seid doch schon so lange fort!"
Nun muss Iduna lachen.
"Ja, ja, diese Menschen! Ich sage es schon immer! Erst sind wir nicht gut genug, weil wir überall herumschwirren und Eure Verfehlungen aufdecken, Euch jedoch auch dagegen helfen, dann sind wir fort und Ihr vermisst uns… und kommen wir wieder in der höchsten Not, bekommt Ihr gleich den Mund nicht mehr zu!"
Sie kichert noch ein wenig. Dann setzt sie sich auf die Brust des Alten und beginnt zu singen. Immer leiser wird Folkwards Atem. Kehrt seine Kraft wirklich zum Teil zurück oder tötet sie ihn? Seine Tochter weiß nicht, sich zu entscheiden. Diese Gestalt davonjagen, von der Brust des Vaters schlagen, sie zertreten… oder ihr vertrauen, hoffen, dass sie… ihnen allen keinen Schabernack spielt für die viele Schmäh, die die Menschen diesen Wesen zugedachte?
"Na, na, denkt nicht einmal darüber nach, ja?!"
Iduna liest wohl in ihren Gedanken. Ein weiteres Mal erschrickt die Clanführertochter. Doch diesmal lacht Iduna nicht.
"So, jetzt bin ich fertig. Und ich bringe Kunde. Jemand wird Euch berichten vom Portal. Er ist sicher niemand, dem Ihr uneingeschränkt vertraut. Diesmal solltet Ihr es aber. In Eurem eigenen Interesse. Und bereitet Euch auf eine Reise vor."
Sie schaut sich um.
"Pha, nichts begreift Ihr. Nichts wollt ihr verstehen. Ihr allein tragt die Schuld. Und selbst, wenn ich Euch helfen könnte… nein, ich würde es nicht tun. Also glaubt mir, oder vergesst es."
Mit diesen Worten schwingt sie sich hoch in die Lüfte. Saigard will sie fangen, schlägt nach ihr, aber die Albe ist schneller. Viel schneller.
"Lass sie!"
Die Stimme donnert der besorgten jungen Frau entgegen.
"Vater!"
Sie läuft zu ihm, sieht noch aus den Augenwinkeln, wie Iduna zwischen zwei Rindenteilen hindurch nach draußen verschwindet, hört sie dort einen Schrei ausstoßen und kümmert sich nicht mehr um sie. Pha, soll die doch vergehen! Hoffnung… na ja, der Vater redet wieder lauter. Erschrocken ist sie nicht wegen der Lautstärke, sondern, weil er eben überhaupt für alle hörbar sprach.
"Nimm Dich zusammen, Weib!"
Dann sinkt er wieder zurück und sie erkennt, dass nun auch seine linke Hand nicht mehr zu sehen ist. War das diese verrückte Albe? Oh, sie könnte dieses Geschöpf… nein, wird sie nicht tun. Zu gefährlich. Noch existiert Midgard und somit gibt es auch die Götter. Selbst wenn die… ihnen nicht helfen? Meinte Iduna das nicht nur für sich, sondern für alle aus Asgard? Kaum zu glauben!
"Ja, Vater. Sie ist fort. Draußen kann ich sie aber nicht beschützen!"
Weder vor der Umwelt noch vor… der Wut, die die Menschen auf all diese Fabeltiere haben, seit die sie verließen. Taten sie das überhaupt? Einen Moment lang denkt sie nach. Dann schlägt sie sich an den Kopf. Wollte dieses kleine Biest genau das? Nein, Erfolg darf sie damit nicht haben. Nicht bei ihr oder irgendwem!
"Hol den Jungen. Er kann es öffnen!"
Öffnen… dieses Portal ist nicht zu öffnen. Wie denn? Es geht nicht. So viele Weise versuchten es angeblich, befragten nicht nur die Orakel, die Götter, die alten Schriften, nein, auch… auch… diese Mystischen. Ob nun die Alben, die Drachen. Niemand wollte ihnen helfen. Und so gaben sie auf, kümmerten sich weder um das Portal noch um die Welt. Midgard ist… ist verloren? Begann es so? Weil sie keine Antwort erhielten? Nein, weil sie zu spät suchten? Sie muss diese Gedanken verbergen, darf sie nicht offen zeigen… Halt! Die Albe ist fort. Wer sollte hier noch ihre Gedanken lesen können?
"Du gehst falsch, Tochter!"
Der Vater. Der konnte es immer. Und nun war er fast tot. Ging es ihr nahe? Sie findet keine Antwort.
"Niemand weiß, wo er ist und ob er kann, was man ihm nachsagt. Darum ist es doch müßig, ihn zu suchen, Vater!"
Der bohrende, nun fast kalt wirkende Blick des Alten ruht auf ihr.
"Wer es nicht versucht, wird es nie wissen!"
Oha, diese alten Schlachten. Wie sie die hasst! Immer hat er recht, kann sie in die Knie zwingen. Der Tod wird es beenden. Bei diesem Gedanken erschrickt sie und meint, ein verschmitztes Lächeln in den wieder bleichen Zügen des Vaters zu deuten. Einbildung!
Ein Schlag ist es, der sie erzittern lässt. Sollte so alles zu Ende gehen? Teilt sich Midgard, zerbricht ihre Welt, kann Yggdrasil, der immergrüne Weltenbaum, sie nicht mehr halten, ihnen keinen Trost und keine Zukunft mehr spenden.
Der Boden bebt. Saigard hat das Gefühl, in die Luft geschleudert zu werden und einen Moment nur sieht sie das ferne Utgard vor sich, diese düstere Burg außerhalb ihrer Welt, in der das Ende jeden Tag über alle kommen soll, die sich darin Zuflucht erhofften. Immer und immer wieder gehen sie unter, finden jedoch keine Ruhe, erstehen wieder auf und beginnen von Neuem, sich auf das Ende vorzubereiten. Utgard… wieso glaubt sie, diese Burg zu erblicken? Woher kennt sie die? Nein, ihr Vater schickt ihr keine Gedanken. Wer sonst? Diese Albe, die in ihr lesen konnte, wie auf einem Schriftstein? Nein!

Der Donner verebbt. Der Boden beruhigt sich. Nein, nicht wirklich. Das Übliche der letzten Zeit, das ist weiterhin um sie. Sie nimmt es schon kaum mehr wahr.
"Ursula, komm, hilf mir, setzen wir Vater auf diesen Schemel und lassen ihn beim Blick nach draußen begreifen, was alles um uns ist und wie wenig er glauben kann, alledem mit ein wenig Hokuspokus Einhalt zu gebieten!"
Nichts. Niemand kommt. Erschrocken schaut sie um sich.
"Ursula? Wo ist sie?"
Die anderen dienstbaren Geister schauen sich um, bemerkten das Fehlen des Mädchens aus guter Nachbarschaft nicht einmal. Nachbarschaft… Saigard schüttelt sich. Es gibt keine Nachbarn mehr. Wenn man Steine und Erdspalten nicht als solche bezeichnen will. Das Mädchen aber, es bleibt verschwunden.
"Wer sah sie das letzte Mal?"
Alle schauen sich an, erschrecken fast, als sie den oder die neben sich wahrnehmen. Oh, wie sie sich auch hier alle nur mit sich selbst beschäftigen, nichts mehr für andere tun, und wenn doch, nur auf Befehl. Es tut weh… Sie geht in sich. Dann schüttelt sie sich wieder. Gut. Ursula ist fort, vergangen, nicht mehr zu sehen. Was nützt es, jetzt darüber nachzudenken? Nichts natürlich! Sie flucht.
"Kommt, dann helft Ihr mir wenigstens. Er muss es sehen. Ich kann dieses Gerede von Hoffnung nicht mehr hören!"
Wieder schauen alle erschrocken. Ohne Hoffnung? Was wird dann aus ihnen? Wie auf ein Kommando lassen sie alles stehen und liegen, stürmen zur Tür, verschwinden, schreien draußen. Fassungslos schaut Saigard ihnen nach.
"Was… was soll das?"
Niemand hört auf sie. Traurig, die baldige Einsamkeit erkennend, schließt sie die Tür und versucht, den Vater selbst aufzusetzen.
"Hol ihn. Ich kann hier allein liegen und sterben. Hol ihn und lass ihn das Portal öffnen. Er allein vermag es!"
Er allein… wenn er doch nur etwas allein hinbekommen hätte! Nicht einmal wagte er sich, sie zum Weibe zu nehmen. In der Nacht zu ihr schleichen, das konnte er. Aber wenn sie verlangte, er solle mit ihrem Vater sprechen, dann ging er. Warum? Weil sie ihn nicht ernst nahm?
"Nein, er vollbringt gar nichts. Und Du weißt es!"
Wut steigt im Alten auf. Er mag sie nicht mehr zu bezähmen. Dabei predigte er stets von Liebe und einem guten Miteinander. Auch wenn er durchgreifen musste, sich nicht alles gefallen lassen durfte. Egal!
Er kontrolliert sich nicht mehr.
"VATER!"
Sie schreit auf, als er sich in helles Licht hüllt, Blitze aus ihm herauszuzucken scheinen.
"VATER!"
Sie kann sich nicht beruhigen. Er zuckt hin und her, schaut sie jedoch gleichermaßen völlig ruhig an, dass sie meint, in einer ganz und gar unwirklichen Welt zu stecken. Was ist das? Was geschieht mit ihrem Vater? Ist er… ein Zauberer, fernab des alten und des richtigen Weges, dass er sich so… so benehmen kann? Sie findet keine Antwort, nur diese Blitze, die inzwischen überallhin schlagen. Durch das Dach, die Wände der einfachen und doch besten Behausung des längst vergangenen Dorfes, selbst durch ihren wenigen Hausrat, die Kessel und Krüge, die Schalen und… Regale, in denen sie alles aufhängt, wie es schon ihre Mutter tat, die vor Gram oder weil sie diese Welt nicht in deren Verfall erleben wollte, vor Jahren starb.
Wer gibt ihr so etwas ein?
Wieder eine Frage mehr.
"GEH… HOLE IHN!"
Donnernd spricht er zu ihr. Noch nie hörte sie diese Härte in seiner Stimme, noch nie sah sie ihn so… wie einen Schatten mit einer glänzenden Aura um sich herum. Sie zuckt immer wieder zurück und fühlt sich doch hingezogen, will dem alten und so sehr geliebten Mann helfen, kann es aber nicht. Als wäre da ein Feld, das sie abhält, näher zu ihm zu treten. Schlimmer noch. Dieses Feld wächst, wird größer, schiebt sie mit einer ungeahnten Kraft in Richtung Tür.
"Vater, ich kann nicht!"
Sie kann nicht. Die eben noch klaren Augen des alten Mannes brechen. Er schaut nur noch nach oben, liegt still und verliert das viele Licht um sich auf einen Streich.
"Niemand soll je sagen… dass er nicht kann!"
Dann ist er still, zuckt noch ein wenig Hin und Her, liegt wieder so, wie schon die vielen Tage vorher, als weder sie noch die letzten Heiler wussten, was man tun kann, wie man dem größten Führer von Midgard helfen könnte. War es da schon lange zu spät? Was aber war dann eben dieses Tun? Göttlich… sie denkt an Asgard, an Utgard, welches sie vorhin sah… und an Markward, dem sie vertraute, der sie zur Frau machte und den sie doch… verstieß?
Verstieß? Sie fragt sich, was das wohl soll. Verstieß… wie konnte sie ihn verstoßen, wenn er es doch war, der nichts tat? Er wandte sich ab. Oder verwechselt sie da etwas in ihrer Erinnerung, will sie glauben, unschuldig zu sein, ihn als den… Zerstörer ihres Seins hinzustellen? Nein, das darf sie nicht dulden!
"Geh, hole ihn. Er allein kann uns allen helfen. Er ist… ist…"
Was war das? Deutlich hörte sie die Worte, sah den Vater vor sich liegen und doch bewegte er nicht die Lippen. Gedanken? So, wie die Urväter mit den Göttern sprachen, wenn sie lange in der Wildnis umherirrten, sich einen Namen zu verdienen suchten, dann jedoch feststellten, dass nicht sie selbst, sondern jene, die über sie wachten, ihnen halfen, sie auf den rechten Weg und vor allem endlich nach den vielen Entbehrungen der Suche an Nahrung brachten. Nein, längst nicht jeder fand den Ausgang aus dem großen Wald. Viele blieben. Die Väter sprachen von einer Auslese. Nur die Stärksten durften erwachsen, wirkliche Männer und Weiber sein, sich paaren, kämpfen, Kinder bekommen, sie aufziehen und… schließlich den Göttern zu Gefallen sterben. Der Rest… und es waren nicht wenige… verging einfach in den Wäldern. Nie fand einer, der von da zurückkehrte, eine Leiche oder ein Zeichen, wohin sie gegangen sein könnten.

Midgard… sie flucht vor sich hin. Es ist ihre Welt. Nun vergehen alle um sie herum schon im Dorf… oder eben da, wo das Dorf einst war. Nichts kann sie retten. Weder eine alte Geschichte noch ein Mann, der nicht den rechten Mut bewies, obwohl er einen Namen erhielt, die Götter ihm den Seinen noch einmal gaben und ihn zurück in ihre Welt schickten.
Sie schickten… nun ja, lange wussten die Alten nicht, was sie von Markward halten durften. Seit Generationen gab es solch einen Fall in Midgard nicht. Nie kam ein junger, gereifter Mann zurück von seiner Suche und verkündete, dass ein aus einer Laune der sich damals in Not befindlichen Mutter heraus gegebener, zwar sehr alter, aber eben doch für das Kind gedachter Name für den Mann Fortbestand haben soll. Natürlich dachten viele das Gleiche. Der Junge traute sich nicht in die Wälder der Götter, sah Yggdrasil gar nicht und schlich sich nach einer Weile feige zurück ins Dorf, um dort so zu tun, als wäre er… gereift. Doch niemand wagte, dies auch wirklich laut zu sagen. Denn… stimmte es nicht, könnte man die Götter verärgern. Stimmte es, werden diese den Jungen schon noch strafen.
"Er kann uns nicht helfen. So, wie er damals nicht den wirklichen Weg wählte, so ging er auch von mir. Wenn er etwas tun kann, dann höchstens mit seinem Tode die Götter besänftigen, auf das sie Asgard nicht auf Midgard fallen lassen!"
Gleich weiß sie, er wird wieder toben, wenn ihm noch genügend Kraft dafür bleibt. Instinktiv geht sie in Deckung, versucht, Augen und Leib zu schützen, aber alles bleibt ruhig. Vorsichtig schaut sie hinter dem Vorhang hervor. Noch nie versteckte sie sich vor ihrem Vater und nun liegt der Mann, der ihr eine Menge beibrachte, der sie auf ihre Prüfung vorbereitete und mit dem sie manch schönes Erlebnis teilt, auf dem Lager, kann sich kaum bewegen und sie geht vor ihm in Deckung? Nichts versteht sie an sich und diesen Dingen. Wie auch? Sie ist nur ein Weib.
Lächelt er jetzt? Nein, eher wieder traurig wirkt sein Blick. Warum? Was tat sie ihm denn nun, dass er sie so ansieht? Sie schluckt. Nein, falschliegen kann sie doch nicht. Sie kennt diesen Markward. Und dass sie die Menschen versteht, ihnen in die Seele blicken kann, das… Obwohl, nein, sie schluckt schwer. Nie konnte sie in seine Seele blicken. So verschlossen, wie die ihres Vaters, blieb diese für sie. Verstehe das einmal jemand! Bisher dachte sie nie darüber nach.
Hüter der Grenze, der Wächter… das bedeutete sein Name. Warum Norgard ihm einst diesen gab? Nur eine Idee?
"Er allein kann es. Und erzähl mir nicht schon wieder, dass er allein dieses Gedankens nicht würdig sei. Er muss… herzu. Dann haben wir noch eine Chance, wenigstens das Andenken an Midgard zu retten. Für alles andere ist es… längst zu spät!"
Düster sind die Gedanken tief in ihr drinnen. Wo, denkt sich denn ihr Vater, soll sie den Jungen finden? Ewig schon sahen sie sich nicht mehr und nun soll sie schnell einmal losziehen, ihn…
Den Wächter der Grenze… an der Grenze? Nur… an welcher? Midgard ist schließlich eine von neun Welten. Nur eine… und hat somit acht Grenzen, denn irgendwie grenzen alle… an Yggdrasil. Er? Der Baum? Nein, nein! Sie verwirft das alles, schaut dem Vater fest ins Gesicht.
"Uns bleibt nicht viel Zeit. Das stimmt, Vater. Aber diese werde ich sicher nicht an Markward verschwenden. Das, und das magst Du mir nun glauben oder auch nicht, das ist er einfach nicht wert!"
Ein tiefes Einatmen hört sie. Dann scheint es so, als schliefe ihr Vater. Lebt er noch, ist er tot? Sie tritt herzu… Der linke Arm, die Beine, all dies ist verschwunden. Nur noch die rechte Hand bewegt sich leicht und sein Kopf wiegt sich mit einem kaum wahrnehmbaren verneinenden Schütteln langsam hin und her. Er straft sie Lügen. Oh nein, Vater, denkt sie. Darauf darf sie sich nicht einlassen.

Draußen kommt wieder ein Tosen. Sie reißt die Tür auf, sieht, wie von den nahen Bergen ganze Stücke abbrechen und gen Tal rutschen. Längst verlor die Welt um sie die Kraft, diese Brocken noch gen Asgard zu schleudern. Warum? Es geht zu Ende. Ein Brechen neben der Hütte zeigt es an. Der alte Baum, der fast gleich des Weltenbaumes neben ihr steht, krächzt und kracht, ehe die Krone unter lautem Getöse gen Boden stürzt. Saigard springt zur Seite. Nein! Dieser Baum bezeichnet das Leben, versorgte sie mit Schatten und gab Halt, wenn ein Sturm drohte, die Menschen des Dorfes davonzublasen. Nein, zum Glück konnte dies nie geschehen. Nun jedoch… ist alles zu spät. Der Baum starb, wie so viele um sie herum. Starben sie wirklich? Abschätzend schaut sie in die Runde, versucht, sich vorzustellen, wie es noch vor Wochen hier aussah. Nein, das ist unwirklich. Das Dorf scheint tot und… ist es doch nicht. Oder? Sie schluckt wieder. Der Vater war es, der ihr stets Mut zusprach. Das erste Mal im Leben forderte er etwas, was sie selbst nicht verstand, es nicht wahrhaben wollte. Und sie wehrt ihn ab, sagt Nein.
"Suche ihn!"
Leise nur dringen die Worte zu ihr. Liegt es daran, dass sie dem Schutz der Hütte entfloh, draußen im Wind und im… sie bemerkt es erst jetzt… im eisigen Regen steht, oder verliert ihr Vater immer mehr Kraft? Sie will es nicht hoffen. Er ist es doch, der… der alles zusammenhielt… und leider doch nicht schützen konnte.

In der Ferne sieht sie eine Bewegung, die einmal nicht von Steinen und vernichtenden Strömen aus Asgard zu stammen scheint. Gebannt schaut sie auf die Stelle, wundert sich, dass da nichts mehr ist, doch knapp daneben, vielleicht etwas näher an ihrem Dorf, Gleiches geschieht. Es dauert eine Weile, ehe sie begreift, keiner Täuschung, sondern dem Kommen eines Wesens zuzusehen.
Ein Wesen… wieder so eine Albe? Zu weit weg und dafür schon zu groß. Bloß gut… oder auch nicht. Ein Mensch? Wer sollte jetzt… hierher kommen? Sie fragt sich lieber nicht. Ursula fällt ihr ein. Oder jemand derer, die sie so schnell verließen, die einfach davonrannten, als sie eine Gefahr witterten, denen ihr Vater und damit der Clan egal schien. Darf sie so denken? Nein. Sie tut es trotzdem.

Blitze zucken schon wieder. Vorsichtig dreht sie sich um. Nein, sie stammen nicht aus der Hütte. Nicht vom Vater? Scheinbar. Zufrieden und doch voller Angst sucht sie das sich bewegende Bild wieder vor sich, wundert sich, dass dieses schon etwas größer wurde, ohne dass sie Genaueres zu erkennen vermag. Hmm… soll sie hineingehen, abwarten oder lieber zusehen, als Erster wissen, was oder wer es ist? Einen Moment denkt sie an Markward, verdrängt den Gedanken. Nein, wenn jeder, der ist es mit Sicherheit nicht!

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