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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Seitensprung - Ein familiäres Desaster

 

Prolog (Auszug)

...

Mitten in der Nacht. Wache oder träume ich? Konstanze sitzt neben mir auf dem Bett und hält meine Hand. Ich kann ihren offenen Kittel sehen, erahne die Brüste, die ich eben noch streichelte. Und doch ist da ein Nebel, etwas, was alles um mich in undurchsichtige Schwaden zieht, mich selbst fast für verrückt erklärt.
"Na, wieder munter?"
Sie streichelt mich. Dann rückt sie die Haube zurecht und drückt mir noch einen Kuss auf die Lippen.
"Wenn die Schmerzen wiederkommen, dann nimm das hier!"
Eine kleine Pille drückt sie mir in die Hand. Noch in Folie, also direkt aus einer Packung. Ich erinnere mich an den Abend. Sie brachte mir das Essen. War heute… nein, gestern eher… eine Suppe und ein paar Scheiben Brot. Mehr sollte ich nicht essen. Der Professor ist sich nicht sicher, ob mein Magen und meine Leber schon immer so groß waren oder eben gerade in diesen Tagen wuchsen. Dann könnte er sich wenigstens einen Grund für meine ewigen Schmerzen vorstellen. Das viele Liegen auf Station ist dafür auch nicht gerade förderlich. Aber ich will mich nicht beklagen. Das ist nicht meine Sache. Eher, dass ich… ich von Konstanze diese Pille bekam. Keine Ahnung, was es ist. Sie meinte nur, manchmal hilft es… wenn auch nur kurzzeitig. Und es half wirklich. Wie ein junger Mann fühlte ich mich und wurde nicht einmal von meinen Muskeln und Gelenken im Stich gelassen… sie keuchte dabei und… ich beging… Ehebruch…
Plötzlich sind da Bilder, die ich verdrängen wollte.
Bettlaken, die nachmittags zerwühlt wirkten, obwohl ich sie früh auf jeden Fall geradezog. Die Kinder waren damals in der Schule. Nur Helene hatte frei. Immer einen Tag in der Woche. Ich fragte nicht. Vielleicht legte sie sich nur hin? Dabei würde sie doch nicht in meinem Bett… Na ja, das war vor einer Weile. Vielleicht wollte sie daraufhin angesprochen werden? Verstehe mal einer die Weiber! Ich kichere und noch einmal dreht sich Konstanze um, wirft mir einen flüchtigen Handkuss zu und entschwindet… geht aus dem Raum. Dann bin ich wieder allein in der Dunkelheit. Verrückt… war das alles nur Einbildung oder habe ich es erlebt?
Langsam kommen die Schmerzen wieder. Nur leicht. Erst nehme ich sie kaum wahr. Dann mache ich eine zu schnelle Bewegung, als ich die Folie mit der Pille verstecken will, spüre, wie sich mein Gehirn einen Moment zusammenzieht. Oh weh… hoffentlich hat dieses Zeug keine absurden Nebenwirkungen! Das würde mir gerade noch fehlen… Na ja, kann ich jetzt nicht ändern. Nur beobachten und… besser machen… oder eben sein lassen. Muss ich noch sehen. Trotzdem ist mir nicht wirklich gut. Schlaf… fehlt mir sicher nicht. Aber… ich denke an Konstanze und Helene… und an… nein, das will ich nicht!

Mit diesem Leben komme ich irgendwie nicht klar. Konstanze wurde auf eine andere Station versetzt. Niemand mag mir sagen, warum. Ich bin hin und her gerissen, wundere mich immer wieder, wie Menschen miteinander umgehen. Doch schließlich steht sie eines Nachts wieder an meinem Bett. Ich hatte einen schweren Tag. Viermal mussten die Ärzte kommen, hatten die Schwestern zu tun, mein Bett zu reinigen, und wurde auch mehrmals nach meiner Frau telefoniert. Sie war unter der Handynummer nicht erreichbar. Schließlich, als ich wieder einigermaßen bei mir war, kam die Stationsoberschwester zu mir und fragte nach noch einer anderen Kontaktmöglichkeit. Doch außer einer eMail-Adresse konnte ich ihr nichts geben. Die Festnetznummer scheint nicht mehr zu funktionieren. Warum… weiß ich auch nicht. Einfach nicht zu verstehen. Schade.
Helene kommt auch nicht zu mir. Nur eben… Konstanze. Doch sie legt mir gleich den Finger auf den Mund. Sie könne nicht bleiben. Auch wenn sie es sehr gern tun würde. Man beobachtet sie, und da sie schon einiges in ihrer Akte stehen hat, wie eine angeblich unsachgemäße Dosierung von Schmerzmedikamenten… Vielleicht waren einige davon, die sie einer fast toten Frau nicht mehr gab, gar die, die sie mir daließ? Hmm… dann bekomme ich doch gleich Gänsehaut. Dazu soll sie ihrer Oberschwester über den Mund gefahren sein, sich meist zu sehr um Männer in meinem Alter kümmern und sonst nicht gerade die ganz liebe Schwester mimen, die sie mir… hoffentlich nicht vorspielt, oder?

"Ich gehe wieder. Hier ist meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn sie Dich entlassen, ja? Ich hole Dich auch ab…"
Abholen… na, wenn ich hier rauskomme, werde ich doch wohl selbst laufen können? Autofahren eher nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch einen Führerschein besitze. Komisch! Polizei kam bisher keine vorbei. Vielleicht ignoriert man mich eher? So, wie es Helene tut? Ich umarme Konstanze fest. Dabei spüre ich ihre Formen, will mehr, doch sie reist sich los.
"Werd‘ gesund… dann sehen wir weiter, ja?"
Ich schlucke, nicke dabei. Schon ist sie fort. Und wieder sind diese Gedanken da… Helene betrügt mich und ich mache mir Sorgen wegen einer zwanglosen Liebelei im Krankenhaus… oder ist es weitaus mehr, als eben nur dies? Einer Antwort… gehe ich aus dem Wege, suche in meinem Nachttisch. Irgendwo… irgendwo muss doch noch mehr von meinem Leben übrig sein, als eben nur ein Verlag, dessen Mitarbeiter sich nicht um mich kümmern, und eine Frau, die einfach nicht erreichbar ist. Sonst, das glaube ich allen Ernstes, sonst bleibt nicht viel als Fazit meines fünfundvierzigjährigen Daseins auf Erden. Tod und Teufel… schade darum!

Frauen… ich schrecke aus dem Traum hoch. Frauen, deren Gesichter an mir vorüberziehen und die ich nicht zu kennen glaube. Doch sind sie mir vertraut. Sehen auch gut aus. Jung… alle zehn, vielleicht gar fünfzehn Jahre jünger als ich. Das ist doch verrückt, oder?
Ich blättere in dem Büchlein, das ich zwischen meinen Sachen fand. Nein, kein Adressbuch. Nur Notizen. Vielleicht von den letzten Projekten? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ich mir solche Manuskripte ansah, sie nach dem Lesen der ersten Seiten auch nur noch eines Gedankens würdigte. Wenn zumindest meine Zeilen stimmen und ich nicht allzu viel Mist geschrieben habe.
Da… ein Name. Manuela. Dazu fällt mir wiederum ein Gesicht ein, das ich nicht im Traum sah. Zufall? Keine Ahnung. Vielleicht. Und unter den Buchstaben steht eine Nummer. Hingekritzelt. Ich versuche, mit einem Bleistift ebenso zu schreiben. Ohne Erfolg. Den Namen… ja, den bekomme ich hin. Aber die Zahlen?
Eine lange Nummer. Vorwahl… mit zwei Nullen. Also im Ausland. Oh Mann, so sehr kann ich mir doch den Kopf nicht bei diesem Unfall gestoßen haben, dass ich nun gar nichts mehr weiß, oder? So ist es ja gar nicht. Ich weiß viel. Nur scheinbar immer gerade nicht die Dinge, die mir neu einfallen und die ich nicht wahrhaben will… oder auch nicht darf? Dann stünde ich unter einer Fuchtel… der von Helene? Oder vielleicht einer anderen? Diese Frauengesichter ohne Namen, die machen mir Angst. Ja, sie murmeln alle etwas. Und vielleicht… ich hätte es Konstanze erzählen sollen… vielleicht würde sie mich dann trösten? Kaum anzunehmen. Sie hatte Angst… nicht um mich, sondern um den Job. Der ist ihr wichtiger. Kann ich in der heutigen Zeit verstehen. Obwohl man doch sagt, im Gesundheitswesen sind viele Stellen offen.
Ich will mir an den Kopf schlagen, besinne mich. Das gibt nur noch mehr Schmerzen! Endlich sind die Verbände weg und der Schmerz blieb doch zu Gast. Ich nehme ihn kaum wahr. Bin schon zu lange daran gewöhnt. Und ich wundere mich wieder und wieder… über mich. Ich weiß, dass ich in einem Verlag arbeite, dass Helene meine Frau ist, dass ich eine Tochter und einen Sohn habe… Dazu sind noch Erinnerungen an einiges Allgemeinwissen… und auch an Aufträge… jedoch ebenso an Streit… mit Kollegen und… Helene. Dann sehe ich schon wieder diese Laken, die sie mir nie wirklich erklärte. Komisch… das behält man nun also im Kopf… Wer aber diese Manuela ist? Nein, dazu habe ich keinen Hinweis. Bleibt mir also nichts anderes übrig, als sie selbst zu fragen. Ist das klug? Was ist denn klug? Konstanze ins Bett zu zerren, dass sie fast ihren Job verliert? Meiner Frau Vorwürfe zu machen, ohne einen wirklichen Beweis zu haben? Nein, sicher nicht.
Mühevoll versuche ich, die Zahlen im Mondschein auseinanderzuhalten. Nichts ist daran bekannt. Sollte man nicht bei dieser oder jener Telefonnummer von Freunden etwas erkennen, sich darauf besinnen, diese schon einmal gewählt zu haben? Ich weiß es nicht, höre nur das eintönige Tuten, als ich die Null wähle, um ein Amt zu bekommen. Die Ansage weist mich darauf hin, dass mein Guthaben noch 10,50 Euro beträgt und dass die Verbindung bei Aufbrauchen dieser Summe nicht getrennt wird, dann jedoch der Restbetrag bei der nächsten Aufladung der Karte zu begleichen ist.
Hmm… da kann man sich ja in Schulden stürzen! Egal… ich wähle die zwölf Stellen. Wirklich viele. Muss weit entfernt sein. Die Ländervorwahl sagt mir nichts. Die 001 wäre noch im Gedächtnis. Amerika. Hmm… Ich war erst letztes Jahr drüben und fand einiges nicht so, wie ich es mir immer vorstellte. War es letztes Jahr? Seit ich hier liege, hinterfrage ich alles um mich herum. Besser so… Und schon wieder könnte ich ‚Hmm‘ sagen und denken. Doch ich lasse es, denn jetzt höre ich ein Rufen im Hörer, der meinem Ohr noch wehtut.

"Sandoz…"
Dann folgen noch einige Worte in… in Spanisch. Keine Ahnung, woran ich das nun gerade erkenne. Vielleicht am Namen? Die Stimme wirkt vertraut. Dabei spreche und verstehe ich kein Spanisch, will fast auflegen. Dann höre ich meinen Namen auf der anderen Seite. Ganz nahe. Als wäre… wäre… Manuela gleich neben mir. Verrückt, oder? Ich telefoniere mit Spanien und es kommt mir vor, wie bei einem Ortsgespräch!
"Vollkere… bist Du?"
Meinen Namen so verhohnepiepelt zu hören, ist auch nicht nett. Ich lasse es über mich ergehen.
"Ja, ich. Hallo Manuela!"
Sachlich. Ich meine zu spüren, dass die Frau am anderen Ende auf Distanz geht. Innerlich eher als mit ihrer Stimme.
"Lange nichts gehört… alles gutt?"
Alles gut? Nein, sicher nicht. Als wenn es so sein müsste, beginne ich zu erzählen. Niemand hört mir sonst zu. Das Klicken, welches in regelmäßigen Abständen wohl im Hörer anzeigen soll, dass wieder ein Euro verbraucht wurde, ignoriere ich erfolgreich und rede weiter. Am anderen Ende herrscht erst Stille, dann folgen Aufschrei, besorgte Nachfragen, viele Wünsche… und ich soll unbedingt meine Telefonnummer geben. Das tue ich. Die… habe ich mir gemerkt. Manches geht ohne Probleme. Anderes… ist wie weggeblasen. So sehe ich das Nummernschild meines Volvos vor mir… na ja, der ist jetzt Schrott. Aber ich könnte einfach nicht sagen, welche Farbe er hat. Verrückt! Ich lache mich selbst aus und Manuela glaubt einen Moment, ich lache über sie. Zum Glück kann ich das noch geraderücken.
"Und… was sagen Arzt?"
Was? Ich weiß es nicht. Nun ja, doch. Man macht mir Hoffnung. Die Schmerzen wären ja ein altes Problem… und ich solle nur so weiterleben, wie bisher. Blöd eben, dass ich nicht weiß, wie ich das bisher tat. Helene könnte… Sie redet aber nicht mit mir, kommt nicht vorbei, scheint sich nicht um mich zu kümmern. Und nun… will mir vielleicht Manuela helfen?
"Ich noch… wie sagen? Frei? Urlaub? Dann ich kommen, ja? Du in Krankenhaus? Dresden? Ich kommen und wir reden, ja?"
Ich sehe das Gesicht. Nein, sie ist nicht nur eine Freundin. Oder doch? Ich kann es nicht sagen. Soll sie kommen? Warum rede ich mit ihr, wenn ich mich nun wundere? Von Helene erwartete ich, dass sie kommt. Die da, diese Manuela, die lässt sich nicht bitten, sondern sitzt jetzt schon fast im Flieger. Na ja, übertrieben. Verstehen kann ich es trotzdem nicht.
"Professor mir freigeben und dann wir uns machen ein paar schöne Tage. Wann Du aus Krankenhaus?"
Ha… die Frage, die alles entscheidet. Ich kann sie noch ein wenig hinhalten. Zum Glück wohl… besser so!

Ich überlege. Habe ich eine Affaire? War ich darum Konstanze gegenüber gleich so offen? Weiß ich nicht. Verstehe ich auch nicht. Ist… wie ausgeblendet. Und doch ist da ihr Gesicht. Eingerahmt von langen, nicht nur schulterlangen Haaren. Sie sitzt… sitzt auf einem Bettrand und streckt mir die Hände entgegen.
Hmm… und das ist nicht mein Schlafzimmer. Wohl auch keines in Spanien? Zumindest nicht in einem Hotel der unteren Kategorien. Dabei leiste ich mir im Ausland meist nicht mehr. Sind doch nur Recherchereisen, die ich dorthin unternehme. Meist wird dann nicht einmal eine gute Geschichte draus. Ich muss auch nicht schreiben und dichten können… Ein Verleger muss nur eines… Bücher verlegen. Der Verkauf läuft über die Läden, das Internet, das Schreiben erledigen die Autoren und die nötigen Anpassungen und Korrekturen die Lektoren und wie sie nicht alle heißen mögen… Das Händchen ist es, welches ich haben muss. Das richtige Händchen, um einen guten Text von einem für den Mülleimer zu unterscheiden… und dabei…

Manuela hört mir noch eine Weile zu. Sie bestätigt einiges, kann anderes nicht verstehen, weil die erst so makellose Verbindung immer schlechter wird. Ich habe sicher mein Limit schon lange überzogen und sollte jetzt lieber aufhören.
"Gutt, dann ich kommen, wenn Du wieder draußen bist, ja? Aber ruf' mich an. Unbedingt. Ich warten. Machs Gutt… bis bald… und nicht noch einmal Unfall, ja?"
Dann grüßt sie mich noch und ich lehne mich zurück.
Manuela… da ist eine Erinnerung. Und dann auch an Helene… Damals war sie noch jung. Ich auch. Komisch… wirklich komisch! Ich wundere mich zwar selten… na ja, kann ich so nicht sagen, denn seit ich hier sinnlos herumliege, wundere ich mich nur noch. Mehr, als mir auch nur ansatzweise gut tun kann. Und jetzt bin ich müde. Zu müde, um noch klar denken zu können. Dabei…
Ich denke… an den Unfall. Das erste Mal in diesen Tagen denke ich an diese Stunden, die Dunkelheit, das grelle Licht schließlich und die Schmerzen, als mich vielleicht vier oder mehr Arme aus dem zerschnittenen Wrack zogen, dabei sogar unheimlich schnell machten, denn immer noch befürchteten sie, der Tank könnte explodieren. Der Trennschleifer und auch die große Blechschere sorgten wohl für viel Vibration und Wärme, Funken und… Gefahr. Nichts passierte… dann mehr. Der Unfall selbst war wohl gerade noch gut gegangen. Was eben ‚gut' ist… Ob ich…?

Der Schlaf kommt und noch mehr Bilder sehe ich. Aber sie passen nicht zu diesem Autobahnabschnitt. Eher zu einer alten Landstraße. Ein Wartburg, auch noch so ein runder 311-er, der steht an einem Baum und ich sehe mich davorsitzen… Nein, das bin nicht ich. Ich sehe jemanden, der ähnliche Züge hatte, wie ich heute. Vater? Vielleicht. Mutter zog mich all die Jahre danach allein groß. Und nie sagte sie etwas zu Vaters Tod. Tante Erna verbot sie gar, den Unfall nur zu erwähnen. Ich bekam davon… wenig mit. Etwas schon, sonst könnte ich mich heute nicht daran erinnern.
Unfall… ich wurde aus dem Wagen geschleudert und Vater starb noch am Unfallort. Irgendwann fand ich in einer Mappe bei Mutter den Bericht. Dachte mir nichts dabei. War ja nichts Anderes, als diese alten Briefe von der Front, die Großmutter kofferweise auf dem Dachboden hortete, ohne dass auch nur einmal jemand danach sehen wollte. Nur eben ich… um Briefmarken zu sammeln. Das gab ein Hallo im sozialistischen Staat! Ich komme mit einem Briefmarkenalbum voller Hitlerköpfe an… Na ja, danach durfte ich nicht mehr auf den Dachboden und Mutter erzählte erst recht nichts vom Unfall…

Die Schmerzen im Kopf… Ob die daher kommen? Wenn sie nie etwas sagte, verschwieg sie all dies vielleicht auch vor den Ärzten? Wäre zwar Wahnsinn, aber…

So viele Jahre hielt ich es durch und nun… kommt alles wieder… mit einem Unfall, bei dem ich vielleicht… sterben sollte? Warum denke ich genau in diesem Moment an Helene? Schnell versuche ich, diese trüben, falschen, bösen Gedanken loszubekommen. Wir haben uns zwar nicht allzu viel zu sagen, aber soweit würde sie doch nicht… Oder doch? Kann es denn sein, dass sie…? Nein, bitte nicht! Mir wird gleich kalt und heiß in einem.

Endlich ist es soweit. Ich weiß zwar noch nicht wirklich, wie ich die nächsten Tage ohne ärztliche Unterstützung überstehen soll, zumal ich immer wieder das Gefühl habe, nicht wirklich bei der Sache und erst recht nicht gesund zu sein. Aber heute brachte mir die Oberschwester mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen die Entlassungspapiere. Dazu meinte sie noch, ich wäre wohl weiterhin unter Beobachtung. Jemanden anderen kann sie wohl nicht meinen, als Konstanze. Und dass diese Geschichte eine so große Runde im Krankenhaus drehte, ist mir mehr als nur unrecht. Vielleicht, geht es mir immer wieder durch den Kopf, erfuhr auch schon Helene etwas davon und kümmert sich darum nicht mehr um mich?

Nach Hause… ich will da nicht hin. Ungute Gefühle habe ich und immer wieder tauchen schemenhafte Bilder auf, die mich beängstigen. Bin ich vielleicht… vielleicht gar nicht wirklich hier, lebe nicht mehr und sehe alles nur durch einen Schleier? Denn einen ganz klaren Blick habe ich auf keinen Fall. Stets ist alles wie in einem Nebel, vielleicht auch mitten in einer Rauchwolke. Nein, die würde anders riechen… oder meine Sinne sind nicht beisammen. Alles ist möglich. Und ich stehe auf der Straße.
Irgendwo in meiner Tasche, die mir Helene doch irgendwann gebracht haben muss, steckt der Schlüssel. Erinnere ich mich an meine Adresse? Die steht auf meinem Ausweis und den bekam ich vorhin mit den Entlassungspapieren ausgehändigt. Auch meinen Führerschein. Vielleicht darum dieses süffisante Lächeln? Alles ist möglich. So richtig gut geht es mir bei diesen Gedanken nicht, aber… na ja, irgendwie soll es immer eine Lösung geben… oder eben auch nicht.

Da ist das Haus. Ruhige Wohnlage. Fremd wirkt alles. Bisher fuhr ich wohl stets mit dem Auto. Opfer der modernen Gesellschaft? Ich lache ein wenig in mich hinein, schaue dann nach vorn und entdecke den kleinen Fiat, mit dem Helene ihre Einkäufe erledigt. Der Volvo stand stets in der Tiefgarage. War vielleicht alles nur ein Traum und ich gehe jetzt da hinunter, streiche über… metallic Blau… plötzlich ist da die Farbe des Volvos. Ja, dieses herrliche Blau war es. Hmm… gut, dann kommen die Erinnerungen vielleicht wirklich Stück für Stück wieder und ich brauche mir keinerlei Sorgen zu machen? Ja, vielleicht. Erst einmal hinunter, nachsehen, ob das Auto wirklich dort steht. Wäre ja… ein… ganz komisches Erlebnis, um es gleich mal so mysteriös zu umschreiben.
Wie selbstverständlich greife ich den richtigen Schlüssel am Bund, öffne die Tür an der Treppe zur Tiefgarage und trete…
Leer. Na, war doch klar, oder?
Warum fährt Helene dann nicht den Fiat hier herunter? Frauen und Parkplätze! Es soll schon Ausscheide gegeben haben, wer am Schlechtesten einparken kann. Ich beteilige mich an diesem uralten Kampf zwischen Mann und Weib nicht wirklich. Vielleicht… ist der zwischen Helene und mir nichts anderes? Begann ich nun… oder war sie es? Womit begannen wir? Uns nicht mehr zu lieben, uns zu hintergehen? Diese Manuela, deren Stimme erst vertraut, dann fremd und dann wieder zu nah wirkte, die lässt mich nachdenken. Zu komisch… sollte ich Helene mit der…? Und wann? Wann muss ich denn… nach Spanien? Weiß ich vielleicht nur nicht mehr, dass sie nach Deutschland kam? Sollte ich sie anrufen und ausfragen? Vielleicht. Noch verdaue ich die Kosten des Telefonats im Krankenhaus… dreiunddreißig Euro musste ich nachzahlen… und das in Zeiten der Flatrate… komisch, an diesen Kleinkram erinnere ich mich. Vielleicht sollte ich erst einmal meine Konten durchsehen, ehe ich mich schon wieder in Unkosten stürze… um Manuela anzurufen oder eben mehr über sie herauszubekommen… wo auch immer.

Die Treppe hinauf nehme ich. Der Fahrstuhl wird gerade gewartet. Ist das nicht immer so, wenn ich ihn brauche? Bruchstücke fliegen durch meinen Kopf… nein, nichts Hartes. Eher… Gedanken… Teile davon. Und ich kann sie nicht wirklich zusammensetzen. War da mal so ein Monteur, der extra noch mit den Arbeiten wartete, bis ich mit meinen Einkäufen aus der Garage in der zweiten Etage ankam? Ist irgendwie egal, oder? Ich lache über mich und habe gleich wieder Schmerzen im Kopf.
"Hallo Herr Weller!"
Alte Stimme… dann kommt eine ältere Frau auf mich zu, eher von oben die Treppe heruntergestiegen, als ich gerade in der Zweiten ankomme und meine Wohnungstür wiedererkenne.
"Sie waren doch verreist, oder? Unsere Tochter war da und Ihre Frau war so freundlich, uns mal Ihren Tiefgaragenplatz zu überlassen. Sie ist aber schon wieder weg und…"
Das geht noch eine Weile so weiter. Verflixt… diese Kopfschmerzen bringen mich noch einmal um! Und das Gerede auch.
"…Wie geht es denn den Kindern? Selina wird ja immer mehr zur kleinen Dame, nicht wahr? Schön, sie so aufwachsen zu sehen!"
Dann bekomme ich die Frau endlich los. Ihr Name fällt mir nicht ein. Wie auch? Ich kann mir nicht alles merken und schließlich brauche ich nur am Klingelschild zu schauen, werde ihn schon entdecken. Einer der beiden Namen da oben… das Haus hat nur drei Etagen und sie kam von oben… Worum ich mich so kümmere!
Kinder… sie fallen mir wieder ein. War nicht Selina am Telefon? Oh, die Erinnerungen sind nicht wirklich stark!
Etwas mutlos stecke ich den Schlüssel ins Schloss, öffne.
Muffig? Nein, nicht wirklich. Etwas abgestandene Luft. Mehr nicht. Gut denn… nun kann ich in Ruhe nachschauen, woran ich mich erinnere… oder auch nicht…
"Papa!"
Ein kleiner Bub… nein, ich erkenne ihn schon. Das ist Markus. Er kommt auf mich zugerannt und ich nehme ihn gleich hoch, um den fast unvermeidlichen Aufprall auf meinem Bauch zu verhindern. Wer weiß, wie das wieder wehtut!
"Endlich bist Du wieder da!"
Ja, endlich. Und wo ist Selina?
"Oh, noch in der Schule. Mama meint, sie kommt heute nicht, denn Du bist ja wieder da. Wenn was wäre, sollen wir in Meißen anrufen."
In Meißen… bei den Schwiegereltern? Sie kommt nicht? Ist es schon soweit gekommen? Und ich Trottel erinnere mich an nichts, nicht einmal an einen kleinen Teil. Das kann doch nicht… die Klinik lässt mich auf die Menschheit los, man gönnt mir keine Therapie… darauf muss ich mich erst einmal hinsetzen.

Markus hat zu tun. Fußballergebnisse trägt er in eine Tabelle ein. Scheint ihm wichtig zu sein. Fußball… wo ich doch alle Einballsportarten hasse! Na, vielleicht sollte man seine eigenen Abneigungen nicht unbedingt anderen weitergeben. Wie war das mit Mutter? Höhenangst… habe ich auch ein wenig. Nicht zu sehr und meist nicht mich selbst betreffend, aber andere kann ich nicht nahe an einem Abhang stehen sehen. Da reichte mir schon der Staffelberg bei Staffelstein… oder eben einer der Felsen in der nahen Sächsischen Schweiz… und schon bin ich völlig fertig. Kein Zustand, aber eben mein… Leben. Schade oder gut? Nun, Markus soll seinen Fußball lieben. Solange ich nicht mitspielen muss… ist ja alles gut, oder?

Im Schlafzimmer sehe ich unsere Betten. Meine Matratze ist ganz neu. Wie man das erkennt? Einfach, denn da hängt noch so ein Anhänger des Ladens dran und ich kann mir nicht vorstellen, dass der einige Jahre mitgemacht hat… zumal ich mich im Schlaf ziemlich bewegen soll. Bekomme ich zwar kaum mit, aber Manuela…
Manuela… wieso fällt die mir ein, wenn es um die Nacht und eine Matratze geht? Und warum ist meine hier neu und die auf Helenes Seite nicht? Ich habe keine schlüssige Erklärung, könnte nur Scherze machen, habe dazu aber keinerlei Lust… echt nicht!
Dann kommt Selina, hilft mir beim Einräumen meiner wenigen Habseligkeiten aus der Krankenhaustasche.
"Und, wieder fit?"
Sie sieht mich etwas komisch an.
Ich nicke, verziehe aber gleich das Gesicht, denn die Kopfschmerzen sind immer noch da. Die vielen Medikamente, die sie fast ausschalteten, die will ich nicht mehr nehmen. Zumindest nicht in gleicher Menge, die man mir bisher verordnete. Das ist ja… fast schon Selbstaufgabe. Man erinnert sich an nichts und… mir ist wirklich nicht gut!
"Leg Dich hin. Ich mache alles fertig, ja?"
Dankbar sehe ich meine Tochter an. Blonde Haare, ein wenig Schminke, geschickt gewählte Kleidung… Ich glaube gar, sie kauft sich diese Sachen schon selbst. Schön. Sie wird selbstständig. Na, ist ja schon groß… fünfzehn Jahre sind kein Pappenstiel. Und ich… bin ein stolzer Vater… mit Kopfschmerzen.

Dann liege ich und… träume. Oder ist das alles wahr? Nein, diese Gesichter sind nicht in der Wohnung. Irgendwann schrecke ich hoch, weil etwas anders ist… scheint… na ja.
Ich brauche eine Weile, dann höre ich die Flüche von Selina.
"Markus, los, mach doch mal mit, ja? Das schaffe ich nicht allein!"
Es riecht… nach… verbrannter Milch? Ja, sicher. Und schon bin ich in der Küche.
Mikrowelle… feine Sache, wenn man sie denn bedienen kann. Nun scheint sie wohl kaputt zu sein.
"Verdammt, Papa, leg dich hin, ja? Ich schaffe das schon?"
Nichts schafft sie… das meine ich nicht böse. Aber dieses Zeug ist so angebacken und stinkt fürchterlich… Selina wählte wohl die Zeit zu lange und… nein, ganz anders. Plastik… eine Plastiktasse. Mist! Das bekommen wir doch nie wieder hin, oder? Ich schüttle den Kopf und hole einen Schaber aus der Werkzeugkiste. Dass ich mich daran erinnere, wo die stand? Ja, Okay, manchmal habe ich lichte Momente. Schon wieder denke ich an Helene und… Manuela. Die langen, schwarzen Haare sehe ich vor mir und wundere mich. Stehe ich denn darauf? Vielleicht. Keine Ahnung. Was ich aber weiß, ist, dass entweder Helene hierher kommen sollte, um dieses Chaos ein wenig zu verbessern… zu beseitigen eher. Oder ich brauche eine andere Unterstützung. Welche? Ich kann nicht alles wissen… will ich auch nicht. Selbst wenn es nicht gut ist, so zu denken.

"Volker, Du spinnst wohl, oder?"
Hart und unnachgiebig klingt Helenes Stimme. Bin ich gar nicht gewohnt. Was bin ich denn gewohnt? Nichts oder alles? Ich sollte nicht denken, dass ich mich überhaupt an etwas erinnern kann. Aber…
"Und wie soll das hier weitergehen? Wann kommst Du?"
Sie prustet. Nicht lachend, sondern abwertend.
"Wer hatte mich gleich rausgeschmissen?"
Rausge… was?
"Ja, mein Lieber, ja klar! Erst ziehst Du mit Weibern rum, dann soll ich auch noch… Na ja, ist egal. Und dann schmeißt Du mich raus!"
Ich erinnere mich nicht an einen kleinen Fetzen davon. Trotzdem ist sie nicht da… dann geht mir durch den schmerzenden Kopf, dass sie doch einfach alles Alte über Bord werfen könnte, herkommt und wir von vorn beginnen… Scheinbar will sie genau das nicht. Schade. Unverständlich dazu… vielleicht ist sie so und ich sah das bisher nicht… oder ich sah es und donnerte darum in die Leitplanke? Nein, ich bin sicherlich kein Selbstmörder… höchstens einer, der Kopfschmerzen hat. Und die scheinen immer noch mein Leben zu bestimmen. Auch meine Taten? Dann bin ich… ein Gefahrenpotenzial.
"Los, Papa, geh schlafen. Trink vorher noch ein Bier und dann schlaf Dich aus… BITTE!"
Fordernd schaut mich Selina an. Markus wirkt verstört, kennt vielleicht solch laute Töne nicht in unserer Wohnung und denkt sich nun sonst was. Ich nicke und gehe. Dann fällt mir das Notizbuch ein. Wenn Helene mich nicht haben will, sollte ich vielleicht Manuela…?
Ich wähle ihre Nummer. Ja, gut, Auslandsgespräche sind in unserer Flatrate nicht drin, aber billiger als im Krankenhaus ist es hier allemal!

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