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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Teufelsschwur - Das Knochenfeld im Polenztal - Band 1+2

 

Prolog

"Das kann doch wohl nicht…!"
Grinsend sehe ich zu, wie Keller versucht, seine italienischen Schuhe aus dem Schlammloch neben dem Dienst-Audi zu ziehen. Unschlüssig und geschockt schaut er auf das, was der Regen der letzten Tage und die Wassermassen hier im Tal mit seinem Hosenbein und dem edlen Leder angerichtet haben.
"Lachen Sie nicht, Zech. Das ist gar nicht lustig!"
Ich wende mich ab, versuche, die Kollegen zu entdecken. Irgendwo hier, meinte Knauber, soll der Fundort sein. Ich glaube nicht an das Gerede von einem Massengrab. Sicher übertrieb hier ein Kneipenwirt. Kommt in letzter Zeit öfter vor. Erhofft sich vielleicht ein paar Mehreinnahmen und genügend Touristen. Zu üppig wird sein Geschäft in diesem Tal an der alten Rennstrecke auch nicht laufen.
Da ist Friedrich. Ganz in Outdoorklamotten gekleidet, scheint er sich am besten auf die Gegend eingestellt zu haben. Dafür ist er der Älteste von uns.
In meinen ersten Jahren bei der Polizei musste ich mal eine Kontrolle im Tal mitmachen. Irgendwelche Jugendliche hatten den dringenden Wunsch, sich trotz strikter Verbote auf diesen Serpentinen von Hohnstein totfahren zu wollen. Zum Glück konnten wir sie an einer der vielen zum Selbstschutz installierten Schikanen ausbremsen, das Schlimmste verhindern. Aber eingesehen… nein, eingesehen haben sie es nicht.
Heute sind wir aus anderem Grund hier.
"Wer hat was gefunden?"
Keller scheint über die ersten Schrecksekunden hinweg zu sein. Was mischt er sich ein? Die Ermittlungen haben kaum begonnen? Nichts zu tun in seinem Ministerium? Nun, ich kann verstehen, dass er lieber an der frischen Luft in der freien Wildbahn…
Friedrich gibt uns einen ersten Überblick.
"Wolf, der Wirt von der Mühle, der wollte heute nur nach seinem fortgeschwemmten Moped suchen. Das Wasser kam mit voller Wucht und er hatte gestern nicht einmal mehr die Zeit, seine Stühle und Tische in Sicherheit zu bringen. Selbst sein Auto scheint Schrott zu sein. Schlammschrott sozusagen. Aber was er dann am alten Wehr fand, das hat ihn nachher ziemlich fertig gemacht."
Wir laufen durch das Tal, weg von der Mühle. Dahin, wo die alte Rennstrecke auf die S165, die Straße zwischen Hocksteinschänke und Hohnstein, trifft. Ein Umspannhäuschen kommt in Sicht. Natürlich auch das Wehr. Nach dem ersten Bericht glaube ich jede Menge Knochen zu erkennen. Trugschluss?
Der Verkehr braust an uns vorbei. Wir gehen nahe der Leitplanken hinüber zum Findling, auf dem man das Wappen des Nationalparks anbrachte. Schwarzes Blech. Soll das ein Wappen sein? Wohl eher ein Logo? Keine Ahnung. Ganz nebenbei wundere ich mich, wie viel Dreck hier mitten in der Kernzone am Straßenrand liegen darf.
Man erkennt deutlich, dass ein Weg neben dem kleinen Bach aus dem Tal kommt. Dies alles ist mit einem dicken Holzgeländer kaum zugänglich gemacht.
"Ja, der Weg wurde gesperrt. Dem Nationalpark fehlt wohl das Geld für die Sanierung. Muss Jahre so aussehen!"
Jahre… und warum sind wir dann heute hier?
"Ja, gleich da drüben, wo das Wasser unter der Straße hindurch will… dort am Hang. Da muss das Wasser heute Nacht voll gegen gedonnert sein."
Ich entdecke im Schlamm Umrisse eines Mopeds. Vielleicht das vom Wirt? Nein, keine Zeit für solche Gedanken. Da ist noch mehr. Ein Schädel. Zwei gar. Zumindest sehen diese bleich schimmernden Kugeln nicht wie überdimensionale Bofiste aus.
"Nicht nur diese beiden. Da liegen auch noch ein paar Knochen im Schlamm. Aber… und darum ist Knauber nicht hier… scheint hier nicht der Ort zu sein, wo die schon ein paar Jahre liegen. Dazu müssen wir…"
Mein Handy klingelt. Staatsanwalt Wehner! In gewisser Weise mein Chef. Ich sollte ihn nicht zu lange warten lassen.
"Sagen Sie, wo sind Sie denn? Ich versuche schon den ganzen Vormittag…"
Ich gebe ihm einen kurzen Überblick. Und nebenbei denke ich an diese Buttergeschichte… Jeder berichtet Weniger und Mehr. Und irgendwann erkennt man dann nichts mehr. Ich höre ein wütendes Schnaufen.
"Wenn einer auch nur einen Finger an die Knochen…"
Knauber. Sollte der nicht…?
"Nein, da hinten habe ich erst einmal nur gesichert. Müssen an die zwanzig Skelette sein. Oder mehr. Alt. Zumindest was ich sehen konnte. Nun brauch' ich auch hier einen Überblick…"
Soll er. Ich bin nicht wild auf die ganze Geschichte. Nicht mein Ressort. Auch wenn ich mich für ‚aktuelle Fälle mit historischem Hintergrund' interessiere. Ist vielleicht ein ehemaliger Friedhof, ein altes Schlachtfeld. Keine Ahnung. Zumindest nichts für einen Hauptkommissar. Geschichte. Eben ein netter Ausflug.
"Warten Sie doch mal, Zech!"
Keller. Wenn der… ja, wenn der sich einmischt, hat er meist schon seine Ahnungen. Manchmal sogar mehr Informationen. Ist mir soundso ein Rätsel, woher der alles erfährt… gerade jetzt fernab des Präsidiums, im Ministerium eben.
"Sie sehen das zu oberflächlich. Ist doch kein Zufall, dass…"
Ich will nichts wissen von seinen ewigen Erklärungen. Natürlich höre ich zu. Vermutungen, was hier einst geschah. Aber… ist nun mal kein aktueller Fall.
"Doch, Zech. Heute… heute sind die Skelette aufgetaucht. Aktuell… Sie verstehen?"
So dringend brauche ich sicher keine neuen Akten auf meinem Schreibtisch. Und wenn ich daran denke, dass Petra mit Kuno zuhause sitzt, sich wundert, warum ich in aller Herrgottsfrühe losfuhr und sie nicht einmal einen Wecker oder ein Telefon hörte… Klar. Ich hatte Durst… und wenn da gerade das Handy… Egal. Ich muss mich hier irgendwie rausstehlen… Während ich noch eine wegwerfende Handbewegung mache, Keller mir ziemlich frustriert hinterher sieht und Knauber scheinbar gute Laune bekommt, als ich das Signal zum Abbruch gebe, kommt ein dunkler Kleintransporter den Wartenberg von der Hocksteinschänke herunter und hält, als Knauber dem Fahrer winkt. Fast aus den Augenwinkeln sehe ich die kleine Aufschrift in weiß-gold auf der Tür. ‚Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.'. Was machen die denn hier? Und wieso weiß Knauber, dass die kommen?
"Hören Sie mal, Zech, das ist doch einfach. Ich habe schon vor einer reichlichen Stunde überschlagen. Niemand in ganz Deutschland hat für zwanzig und mehr Skelette Särge auf Lager. Außer… ja, außer dieser Verein. Und in einem Stück bekommen wir die auch nicht aus dem Schlamm."
Hmm… für eine Stunde sind die wirklich schnell…
"Nein, das geht auch in Ordnung. Die graben gerade bei Bad Schandau. Wo man die Opfer von diesem Lager vermutet… Sie wissen schon… Schwalbe III, das Außenlager von Flossenburg. Da streiten sich doch die Geister. Und wenn die schon einmal hier… na ja, dann können die uns auch mit den Zinkschachteln helfen, oder?" Wenn man eine Definition für ‚makaber' braucht, sollte man sich zumindest Knauber vormerken. Was heißt hier eigentlich ‚gut zwanzig Skelette und mehr'? Das waren doch nicht etwa…? Nein, ich will es gar nicht wissen. Und doch muss ich etwas in den Einsatzbericht schreiben.
Missmutig und nicht unbedingt erfreut über den Blick von Keller laufe ich noch einmal die Rennstrecke hinauf zur Mühle. Wenn dort diese Mengen von Knochen… dann ist das ja ein ganzes Feld. Knochenfeld… mich schaudert bei dem Gedanken.
Während ich die Straße unter die Sohlen nehme, sehe ich einen PKW nach dem anderen auf mich zukommen. Verflixt aber auch. Hat denn niemand die Straßen abgesperrt? Ich rufe Max an, der sich sonst mit diesen Dingen beschäftigt. Friedrich schaut auch ein wenig schuldbewusst, als ich an unserem kleinen und etwas erhöhten Parkplatz vorbei komme und er gerade ein Rentnerpaar darauf hinweißt, dass sie heute hier nicht parken dürfen, den Grund und das Tal verlassen müssen. Natürlich sind die damit nicht einverstanden, wehren sich mehr als nur mit Worten. Aber geflissentlich übersieht mein geübter Kollege die Handbewegungen. Wenn wir jede dieser Gesten gleich als eine Beleidigung auffassen würden, hätte wohl kein Gericht in Sachsen genügend Zeit, sich um die eigentlich wichtigen Fälle zu kümmern.
Max wirkt genervt.
"Sag mal, wo bist Du überhaupt? Wir sind hier und reden auf Keller ein, dass uns das nichts angeht und Du machst nicht einmal die Straßen dicht!"
Er meint, dass er im Frühjahr und mitten in der Woche bei den vielen Wolken und den noch recht ungemütlichen Temperaturen nicht mit Wanderern rechnet.
"Da kennst Du die aber schlecht. Gerade fangen die an, uns zu nerven!"
Und ich sehe wohlwollend, wie er mit seiner mobilen und viel zu teuren Einsatzzentrale ins Tal rollt. Ist ja nicht zu übersehen, der Wagen! Na, dann werden sich in den nächsten Tagen wieder einmal alle im Landkreis die Mäuler zerfetzen, dass die Polizei die Rennstrecke neulich zugemacht hat. … Tut nichts zur Sache.
Die Rentner sind weg. Sicher versuchen sie nun, nach Hohnstein zu kommen und in einer guten Stunde stehen sie dann irgendwo am Hang, schauen uns bei der Arbeit zu. Wenn wir überhaupt noch so lange hier sind. Abwarten…. Natürlich sind wir noch… Knauber zumindest… mit den Zinksärgen! Zinksärge… Kriegsgräberfürsorge… Ich zücke meine kleine Kommunikationszentrale und rufe zuhause an.
"Nein, da ist mir nichts bekannt. Aber frag doch mal Hauber. Der hat eine ganze Menge Unterlagen über die Zeit gesichtet. Macht ihm zwar nie so richtig Spaß, denn er meint, wenn keine Ritter dabei sind, ist das auch keine Geschichte. Aber sichten tut er es dann doch immer. Und seine Berichte… die hat er fast alle im Kopf!"
Wie komme ich nun wieder darauf? Knauber und diese Schwalbe. Flossenburg. Das alte KZ. Ja, hatte ich nicht neulich erst in der Zeitung gelesen, dass man Schwalbe, das Außenlager, nicht bei Schandau, sondern eher bei Hohnstein vermutet? Kann sein. Aber… soll das die Erklärung sein? Mache ich es mir wieder zu einfach? Und wenn es so wäre… was sucht dann Keller hier? Oder besser… warum sollte er sich um eine Sache aus dem Dritten Reich kümmern, wo er doch eher auf die ganz alten Dinge steht… besonders, wenn er damit noch ein wenig höher stolpern kann? Wäre nett, wenn er mal mit mir reden würde.
"Nein, Zech… ich will Sie und Ihren Spürsinn nicht beeinflussen. Wenn Sie was herausfinden… wer weiß auf welchem Stuhl Sie dann zu Weihnachten sitzen?!"
Weihnachten… wir hatten gerade erst Ostern. Kaum einen Fall her!
Ich muss grinsen. Nein, man lacht nicht über seinen Chef. Auch nicht über eine Aufgabe, die vielleicht doch noch interessant wird…
Hauber ist da. Nicht hier. In Leipzig. Wie immer. Wo denn sonst. Er meint, er käme eh' nur hinter seinen staubigen Akten vor, wenn ich ihn wieder einmal hole. Oder eben, wenn er zu Judith und Petra in die Landesbibliothek muss. Aber da Petra nun nicht da ist… hmm… kommt er meines Wissens nach sogar noch lieber. Eben wegen Judith. Aber da steht mir… nein, ich urteile nicht!
"Schwalbe… ja, Schwalbe III. Die sollten bei Porschdorf einen Stollen anlegen, eine Höhlenanlage gar. Waren kurz bei Hohnstein untergebracht. Da sind die Informationen verdammt dünn. Muss ein hochgeheimes Projekt gewesen sein. Nicht der Stollen. Eher dieses zweite Lager der Gefangenen. Hab ich nie verstanden. Ich fand aber eine ganze Menge Akten zu Porschdorf und ein paar vage Notizen über Schwalbe III. Soll ich die Ihnen…?"
Natürlich soll er. Ich will die Sache an die Historiker übergeben, Keller sagen, dass er sich geirrt hat. War bisher kaum möglich.
Friedrich übernimmt vor Ort. Ich werfe zumindest noch einen Blick auf das Knochenfeld, was sich durch das Hochwasser der letzten Nacht geöffnet hat. Eher Wasserhose. Mich schaudert. Waren am Wehr nur zwei Schädel, die man mit ein wenig Übung verdrängen konnte, so sehe ich jetzt mehr oder weniger geordnet eine ganze Menge Gebeine. Irgendwann, vor Jahren wohl, hab ich einen Schlachthof besucht. Man munkelte, dass es der größte und modernste in Europa sein sollte. Und als ich dort, mein kriminalistischer Spürsinn ließ mich wohl dahin finden, diese Container voller zur nächsten Seiferei abzutransportierenden Knochen fand, war das irgendwie ein furchtbares Gefühl. Jetzt jedoch denke ich kaum an damals. Vielmehr an Menschen, die irgendwann hier umkamen. Aus was für Gründen auch immer. Oder sollten die nur verscharrt, der Welt entzogen, versteckt werden. Können das wirklich Überbleibsel jenes Lagers sein? Schwalbe… wie friedlich das klingt. Schwalben fliegen tief, zeigen das Wetter an, wenn sie den entsprechenden Luftdruck spüren. Und hier? War das auch eine Anzeige, ein Druck, ein Hinweis?
Als ich vor dem ‚Feld', der Wiese stehe, nahe der Polenz, die dahinter in ihrem Bett so tut, als wenn sie zu Überschwemmungen wie in der letzten Nacht nicht fähig wäre, kommt Knauber. Schon wieder.
"Ja, ja, ja Zech, ich will zumindest eine grobe Bestimmung vor Ort machen. Dann haben wir eventuell noch einen Hinweis auf die Jahre. Zumindest das Jahrzehnt."
Ich lasse ihm seinen Willen. Kann mir nur gegen Keller helfen.

 

Ermittlungen – Talgeschichten

Kaum eine halbe Stunde ist vergangen. Ich zähle grob durch. Allein die Schädel und die Beckenknochen, die erstaunlich gut erhalten und nicht von Steinen oder anderer Gewalt angegriffen sein können, lassen vermuten, dass wir es mit fast fünfzig Opfern zu tun haben. Klingt nach einem Massengrab. Ich hatte so was schon mal. Damals an der Hohburg. Aber da wollte niemand die wirkliche Geschichte an die Öffentlichkeit bringen. Hier? Weiß nicht. Mal sehen.
Knauber wirkt genervt. Wie immer hat er seinen großen Koffer dabei. Sein Assistent, dessen Namen ich mir nie merken kann, musste ihn wieder herbringen. Zum Glück hat er Rollen. Der Koffer… nicht der Assistent! Ich gehe zu ihm. Er merkt, dass ich ihm über die Schulter schaue.
"Ja, ist vertrackt. Kann ich nicht einordnen. Jeder anders!"
Fragend sehe ich ihn an. Dann wedelt er mit seiner Kladde.
"Na, die Vier, die ich bisher geschafft habe… alles Beckenknochen… eindeutig menschlich. Aber eben unterschiedlich alt!"
Gut, das soll es geben. Menschen werden nun einmal unterschiedlich alt!
"Nein, ich meine, die sind aus unterschiedlichen Zeiten!"
Zeiten. Hmm… wie das? Ich verstehe nur Bahnhof.
"Muss das alles im Labor untersuchen. Und ich höre schon wieder alle schreien. Kosten. Unmengen kostet das. Muss aber sein!"
Hä? Gut, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Aber… wie meint er das? Schon wedelt er mir mit einem Fundstück vor der Nase herum.
"Na, der Knochen hier, der liegt noch keine zwanzig Jahre. Ein Wunder, das man keine Fleischreste oder sonst was sieht. Bei dem Boden verwunderlich…"
Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Zwanzig Jahre? Das wäre die Wendezeit. Lange nach dem Schwalbe-Lager. Und der Rest?
"Ja, der ist besonders alt. Die Kieselrückstände, die lassen glatt auf den beginnenden Versteinerungsprozess schließen. Ich tippe mal auf 14. bis 16. Jahrhundert Wie gesagt. Alt. Und der…"
Schon habe ich den nächsten Knochen vor der Nase, dass ich gleich noch ein wenig vom Schlamm daran abbekam. Na, Friedrich in seinen Klamotten hätte das nicht gestört. Mich auch nicht so sehr. Aber Schlamm im Gesicht… Ich greife mir ein Taschentuch. Zum Glück nichts weiter passiert.
"Tschuldigung!"
Der Pathologe ist irritiert, steckt wohl zu sehr in der Arbeit.
"Ja, aber der ist so ein Mittelding… kann ich noch nicht ganz einordnen. Vielleicht 19. oder 20. Jahrhundert. Nicht alt, aber auch nicht neu. Alles dabei. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich kurzerhand auf einen Friedhof tippen. Nur, dass da gerade bei den jüngeren Funden noch ein paar Sargreste… nun ja… aber zumindest ist es sehr mystisch. Ich untersuche alle. Vielleicht bekomme ich dann ein wenig Klarheit rein!"
Er wendet sich zu seinem Team, die die Zinksärge langsam füllen.
Vier Funde, vier Skelette. Und drei davon aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Dabei alle scheinbar an einer Stelle. Nein, ich brauche vielleicht nicht Hauber und seine Schriften, sondern eher die Ortschronik. Ein sicher noch abenteuerlicheres Unterfangen. Denn die haben bisher einiges durchgemacht, diese alten Schriften. Ob nun die Kirchenbücher und Sterberegister, die alten Anzeiger und Chroniken. Jeder Herr ließ sie vielleicht durchsehen, ihm Unliebsames entfernen, Geschichte umschreiben und dann auch noch alles verschwinden. Gerade die Russen waren bekannt dafür, alles, was alt aussah, erst einmal mitzunehmen. Wohin? Vielleicht auf den Lokus im Ural? Kann sein. Aber sicherer scheint, dass Vieles auch den verschiedensten Flammen zum Opfer fiel. Kirchenbrand, Bücherverbrennung, verrückte Gauleiter, braune Bürgermeister, Ritter, Könige, Kurfürsten oder einfach nur des Lesens Unkundige, die alles, was sie nicht beherrschten und verstanden, von der Bildfläche verschwinden lassen wollten. Möglich. Aber jetzt noch nicht relevant.
"Ich fahre nach Hohnstein. Vielleicht bekomme ich da ein paar Daten!"
Dabei fiel mir ein, dass man irgendwann die Rennstrecke gebaut haben muss. Gibt es sicher auch detaillierte Geschichten dazu. Und wenn das Knochenfeld damals schon existierte… dann lag es entweder sehr weit ab, tiefer als gedacht oder wurde, von wem auch immer, beim Bau ignoriert.
Oh, das verspricht zumindest ein paar spannende Stunden. Und wenn ich schon einschätzen kann, dass Knauber sich mit dem kaum zwanzig Jahre toten Opfer nicht täuschen wird, dann habe ich vielleicht wirklich einen Fall im Polenztal.
Verdammt… und Keller bekommt wieder Recht. Nein, das kann doch nicht sein… woher hat der seine Informationen? Wird er mir sicher nicht verraten. Nie im Leben!
Kühl ist es. Ich stelle den Kragen hoch und fingere nach dem Handy.
Ich rufe Petra an, meine, dass es heute doch später wird. Natürlich ist da dieses Grollen in ihrer Stimme. Und Kuno lacht im Hintergrund. Klar, wenn er seinen Papa am Telefon hört. Petra stellt mich immer auf Raumton. Schon damit ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Gut, Petra. Aber was sein muss, das muss ich erst einmal erledigen. Ich bin mir sicher, dass Du es wohl nicht anders machen würdest. Und jetzt muss ich rauf auf den Felsen, nach Hohnstein. Wann, verdammt noch eins, war ich eigentlich das letzte Mal dort Wie nennen die diese Burg heute? Jugendburg? Klingt auch nicht gerade aktuell. Eher nach DDR. Aber was soll's… erst mal schauen. Und dann kann ich immer noch Hauber…
Da klingelt mein Handy schon wieder… Ja, wenn man vom Teufel tratscht… nein, ich hasse diese Sprüche. Aber es ist wirklich Hauber.
"Ich habe schon mal alles gescannt und an Ihre eMail-Adresse geschickt, Zech. Denke, damit können Sie etwas anfangen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob dieses Schwalbe-Lager wirklich dort hinten gelegen haben kann, wo Sie die Knochen…"
Ich bringe ihn auf den aktuellen Stand. Ehe er noch weiter sucht und ich ihm dann irgendwann ‚April, April' sage. Das wäre unfair!
"Na, das ist doch mal etwas. Ich denke, da haben Sie schon wieder alle Trümpfe in der Hand. Wer, wenn nicht Sie…"
Hauber, Hauber… kann er nicht bei der Sache bleiben? Ich weiß selbst, dass man mich immer mit solchen Fällen… nun ja.
"Ich hab' noch nichts. Nicht einmal einen wirklichen Beweis. Aber wenn sich dort ein Friedhof befunden hat, dann werd' ich es in Hohnstein herausbekommen. Keine Ahnung, ob die wirklich über das Tal Buch geführt haben. Aber wenn ja, dann müsste ich alles erfahren!"
Hauber stimmt mir zu.
"Wissen Sie was, Zech… wir haben jetzt so eine schöne Jahreszeit. Die Knospen springen auf…"
Das geht noch eine Weile weiter und sicher hofft er, dass ich ihm grünes Licht gebe. Doch ich mag es nun einmal, ihn zappeln zu lassen. Unfair? Vielleicht. Immerhin hat er mich auch schon veralbert. Und Freunde… zumindest dienstliche Freunde… sind wir schon lange. Da kann man ruhig einmal…
"…und da würde ich gern zu Ihnen… Sie verstehen? Zumal die Landesbibliothek weitaus mehr Möglichkeiten bietet, soweit es um die alten Schriften und Bücher geht. Und wenn Sie dann auch noch das eine oder andere Dokument finden… da irgendwo bei den Knochen… na, da bin ich eben schon da."
Endlich bringt er es auf den Punkt. Na, soll er kommen. Die Polizei bezahlt ihn soundso fürstlich für seine hin und wieder wichtigen Dienste. Da kann ich ihn auch als Unterstützung dabei haben. Und wenn er die Bibliothek durchwühlt, dann findet er mit seinem Riecher immer was Passendes. Zumal mit Judith gemeinsam… na, ich lasse die Sache.
"Kommen Sie her, Hauber. Ich bekomme den Fall sicher nicht los. Und wenn Knauber sich nicht verrechnet hat, dann werden wir wohl eine ganze Menge aktuelle Ereignisse mit der Vergangenheit abchecken müssen. Bringen Sie also alles mit, was Sie brauchen können. Und quartieren Sie sich gleich irgendwo ein!"
Ich weiß, wo das sein wird. Auch wenn sie sich noch beide scheuen, es offiziell zu machen… jeder wusste davon. Judith… die hat endlich nicht mehr diese schmierige Art mir gegenüber, seit sie Hauber besser kannte. Ich grinse. Mir kam dieser Satz ein… ‚Die Polizei, Dein Freund und Helfer…' Ja, in diesem Falle schon!
Nachdem ich Hauber los habe und er mir vorher mehrfach versichert, dass er schon in ein paar Stunden in Dresden ankommt, laufe ich zurück zum Parkplatz. Diese alte Wegsäule, die da an der Auffahrt steht, die will ich mir anschauen. Nein, nichts Besonderes. Zu oft in Sachen zu sehen. Die alten Kurfürsten legten einen großen Wert auf diese Zeichen und alle Möglichkeiten, ihren Besitz irgendwie zu markieren. Größenwahn? Vielleicht. Zu viele Fälle musste ich in den letzten Jahren schon gegen sie entscheiden. Auch wenn sie das natürlich nicht weiter belastete. Verjährung, nicht relevant, keine Dinge, über die man in hoher Gesellschaft spricht und sich vielleicht gar Gedanken macht. Aber eben doch Fälle, die wachrütteln. Mich zumindest.
Friedrich überprüft gerade die Daten eines Journalisten. Wie der sich bis hierher durchgemogelt hat… nun ja. Zumindest will der wissen, worum es geht und mein Mitarbeiter sagt kein Wort, sondern stellt eher ihm Fragen. Das ist selbst diesem Presseheini zu viel und er zieht unverrichteter Dinge ab. Friedrich grinst.
"Der hat genug. Nervensäge! Auch noch an der falschen Stelle."
Ja, solange ich nicht weiß, worum es hier geht, will ich auch keine Artikel eines auf den Pulitzerpreis schielenden Schreiberlings, der dann eine ganz verrückte Geschichte daraus macht. Gut, wir hatten auch schon Fälle, die nur durch Unterstützung der Presse gelöst werden konnten. Gebe ich gern zu. Da sind einfach ein paar Spekulationen und weitere Archive im Hintergrund. Dinge, die wir uns nicht leisten können und dürfen. Doch jetzt…
Max steht abseits. Er koordiniert die Sperrungen.
"Chef, die aus Hohnstein fragen schon an, wann sie wieder die kurze Route nach Dresden und so nutzen dürfen. Scheint da ganz schönes Chaos zu herrschen!"
Gut. Werde ich sicher eine Menge Freunde im Ort finden, wenn ich mich gleich auf den Weg mache. Chaos hin oder her. Was sein muss… wer weiß denn, was noch alles vom Wasser…
Was ist das? Sonja kommt mit recht weißem Gesicht auf mich zu.
"Chef, ich glaube, da ist noch viel mehr!"
Hmm… sind die Stöße von Gebeinen noch nicht…? "Wir haben das Moped vom Mühlenwirt geborgen." Schön. Vielleicht kann er damit die Rennstrecke… Ich stoppe meine witzige Ader. Sonjas Gesicht sagt mir, sie haben was gefunden. Was denn?
"Ja, da lag noch einer drunter. Junger Mann!"
Gut… sicher tot. Wenn er unter dem Moped…
"Wer ist das?"
Sonja zuckt nur mit den Schultern. Sicher kennt den jemand. Klar, erst einmal muss ich meine Fahrt hinauf in den Ort verschieben. Also gut. Noch einmal zum gesperrten Weg an der S165. Verdammt… wenn wir jetzt auch noch… ja, wir haben!
"Er trägt eine Art Arbeitskleidung. Wie Waldarbeiter. Nicht vom Nationalpark. Eher von einem privaten Bewirtschafter!"
Knauber schien sich von den alten Knochen zu lösen, trabte irgendwann an, um die neue Leiche zu betrachten. Nur Friedrich schüttelt den Kopf.
"Kann auch ganz privat sein. Manche fahren einfach in diesen grünlich-bräunlichen Klamotten herum. Ich glaube nicht, dass der…"
Ist das nicht egal? Wenn das ein aktueller Toter und kein besonders gut erhaltenes Exemplar aus diesem ganzen Leichenfundus hier im Tal ist, geht der vor?
"Ja, keine 48 Stunden tot. Und ich tippe jetzt, so ohne eine richtige Autopsie, auf einen Genickbruch. Gewalteinwirkung. Kein Unfall. Aber das ist noch kein endgültiges Ergebnis. Ich brauche den Mann erst auf meinem Tisch!"
Wolf, der Wirt, kommt eben zum Fundort um sein Moped abzuholen, Er starrt natürlich, was denn sonst, auf die Bare, auf die sich Knauber das letzte aktuelle Opfer legen ließ. Natürlich abgedeckt. Nur der linke Arm schaut unter dem Tuch hervor.
"Das kann doch nicht…"
Der Wirt wirkt mehr als verstört. Dann kommt er näher.
"Die Uhr, die habe ich ihm letztes Jahr zum Zwanzigsten geschenkt. Und… nein… das ist doch nicht… wer ist das? Hat er ihm die Uhr… das ist nicht Jens, oder?"
Jens? In diesem Fall kenne ich keinen Jens. "Mein Junge, mein Sohn… das ist…"
Wolf lässt sich von niemandem bremsen, fällt über die Bare und reißt das Tuch weg. "Nein, Junge, das kann nicht… Junge, was machst Du denn?"
Er küsst ihn, nimmt den Kopf in seine Hände, merkt vielleicht gar nicht, dass er einen Toten vor sich hat und bedeckt alles von ihm mit Küssen. Zu anderen Zeiten hätte ich mich schon gewundert. Jetzt, da Knauber zumindest von diesen unterschiedlichen Jahrgängen sprach und Hauber fast schon am Telefon einen Zusammenhang mit dem Schwalbe-Lager ausschloss, kann alles normal sein.
"Ihr Sohn? Sind Sie sicher?"
Wolf nickt. Und eine Kollegin der Spurensicherung nimmt sich sofort seiner an. Nein, Knauber mag gar nicht, wenn sich jemand auf seine Findlinge wirft, ehe er die Spuren sichern konnte. Aber jetzt… war das doch wohl zumindest legitim, oder?
Ich beobachte den Mann. Zu oft musste ich schon erleben, dass mir jemand etwas vorspielt. Hier auch? Nein, das ist pure Verzweiflung. Gut, die gab es auch als großes Spiel. Bei denen, die erst viel später begriffen, was sie mit ihren Taten anrichten. Aber soweit will, darf ich gar nicht gehen. Noch nicht. Oder auch nie.
Nach zehn Minuten etwa merke ich, dass sich Wolf ein wenig fängt.
"Herr Wolf, wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal…?"
Weiter kam ich nicht. Er heult wie ein Schlosshund. Ob das heute noch was wird?
Ich stelle mich ein wenig abseits. Sonja und Knauber sehen sich die Leiche an.
"Keine Würgemale. Und auch sonst nichts. Wirklich nur ein Genickbruch. Ich denke, wenn ich ihn obduziert habe, kann ich mehr sagen. Sonja, wollen Sie dabei sein?"
Sie sieht mich fragend an. Ich kenne ihre Passion. Vielleicht wäre sie auch in die medizinische Branche gegangen, wenn ihre Eltern ihr das entsprechende Studium hätten bezahlen können. Na, wer weiß.
"Gut. Untersucht ihn nur gemeinsam. Aber vorher werden alle Spuren ausgewertet. Ist genauso wichtig. Ich brauche Anhaltspunkte, eine Richtung!"
Und ich denke daran, dass ich Keller noch vor Monaten sicher eine ganze Menge hätte erklären müssen, wenn ich mit solch einem Fall angekommen wäre. Fünfzig Tote… alt, neu, ganz frisch. Und alles nach einer… einer Wasserhose? Ja, kann man gut so nennen. Mein Gott, hätten es nicht einfach nur ein paar Dinoknochen sein können? Warum, um alles in der Welt, nun gerade so viele Tote? Warum Menschen?
Gerade jetzt kommt mir der Hohburgfall ein. Diese Birken. Irgendwann gehörte denen das hier alles mal. Und wenn Knauber recht behalten sollte, dann hat das vielleicht gar auch mit denen zu tun? Zumindest in ihrer Zeit kann es begonnen haben. Knaubers grobe Schätzung würde passen.
Begonnen… was denn nur? Ich bin zu voreilig, glaube gar, dass all dies zusammenhängt. Nein, kann nicht sein. Wie denn nur? Vielleicht doch ein Zufall? Oh, ich muss nach Hohnstein. Und dann vielleicht weiter nach Pirna, Bad Schandau, sicher auch nach Dresden. Mal sehen, wo ich überhaupt etwas über all das erfahre. Ob das wirklich mit den Nazis…?
Halt. Ich verlasse mich schon wieder auf die ersten Erkenntnisse. Dabei ist nichts wirklich sicher, nichts auch nur bewiesen. Nein, ich muss warten. Und natürlich schaue ich mir dieses Moped an.
Jahre her… nein, es war keine Schwalbe, mit der ich damals durch die Dresdner Heide fuhr. Hieß, glaube ich, ‚Spatz'. Ja, komische Namen. Aber scheinbar hatte man sich bei den Dingern auf die Vögel gelegt. Und sicher war das keine schlechte Idee. Bloß, dass ich weder einen Führerschein besaß, noch auch nur ein wenig Erfahrung im Umgang mit solch einer ‚Maschine'. Mein Schulfreund Holger, dessen Vater ein hoher Militär zu sein schien, der bekam zur Jugendweihe einen ‚Spatz' geschenkt. Und irgendwann durfte ich ihn mal lenken. Nicht auf der Straße. Das war uns allen nicht wirklich geheuer. Aber eben im Wald. Auch wenn ich das Hinterrad gehörig durch den sandigen Boden wühlte, so hatte ich das Erlebnis, die Maschine bewegen zu können. Ja, damals… Und jetzt? Jetzt liegt vor mir eine Schwalbe. Vorhin, als ich das erste Mal vorbei kam, sah man nur den Sattel… oder die Sitzbank. Hätte jeder Typ sein können. Bei den Massen an Geröll und Schlamm. Aber jetzt… jetzt liegt sie frei vor uns. Und ich erkenne sie natürlich. Nicht gerade der Traum meiner Kindheit, aber eben ein Moped, das ich zumindest kenne. Bei den heutigen Typen kaum mehr machbar. Ich unterdrücke ein Grinsen. Wolf war immer noch da und ich muss hier weg. Der Fall hat noch kein Profil, ist nicht greifbar und nervt mich trotz alledem mächtig. Warum? Nun, bisher zeichneten sich bei diesen irgendwie mit der Vergangenheit verbandelten Dingen zu Beginn immer einige aktuelle Indizien ab und nach und nach kam man auf die längst vergessenen Zeiten zu sprechen. Aber hier? Hier haben wir gleich von Anfang an einen großen Sack Geschichte. Und nichts scheint ein Bild zu bekommen. Könnte es nicht einfach ein Friedhof sein? Dann reduzierte sich ganz schnell alles auf zwei, vielleicht ein paar mehr Fälle unserer Tage. Wir werden sehen… ich muss los. Hinauf in den Ort!
Sonja schaut mir ein wenig wehleidig hinterher. Sicher weiß sie, dass ich es vielleicht da oben trotz alledem noch besser habe, als sie zusammen mit Knauber hier und in der Gerichtsmedizin, aber auch mit diesem Wolf, der seinen Sohn nicht loslassen will. Zum Glück findet Knauber die rechten Worte, ehe ich gehe, und Wolf steht auf, sackt aber gleich neben dem Holzgeländer, der Absperrung des zerwühlten Weges, in sich zusammen und sitzt nun wimmernd, ja völlig zerstört am Waldrand.
Was, frage ich mich, was konnte nur in dieser letzten Nacht geschehen sein? Einzig und allein die rausgespülten Knochen… hatten das sicher nicht gänzlich bewirkt, oder? Und wenn doch? Dann macht Wolf zumindest in diesem Moment nicht den Eindruck, als wenn er auch nur im Ansatz einschätzen kann, was wirklich der Auslöser von alledem war. Nein, hier erfahre ich das nicht.
Ich rufe auf dem Rückweg zum Auto noch einmal Hauber an. Hmm… keine Verbindung. Vielleicht sitzt der gerade in der Tiefgarage? Zumindest sieht er irgendwann meine Nummer und ruft zurück. War so seine Art.
Max steht bei den Kollegen an der Kreuzung und gibt noch einige Hinweise. Als er mich aus dem Wald kommen sieht, wird er etwas ruhiger. "Chef! Tut mir leid, dass ich diese Sperrung… nun… Ich habe halt eine tolle Nacht hinter mir und da… sorry!"
Tolle Nacht… nun, wann Petra und ich… Das stand auf einem anderen Blatt. Ich will sie nicht drängen und habe auch nicht das Gefühl, dass sie nach Kunos Geburt schon wieder… Ach was. Wenn Max sich entschuldigt, dann muss ich nicht gleich irgendwelche Parallelen zu mir suchen, oder?
Ich lasse ihn verdutzt stehen und sehe nebenbei, dass Keller immer noch hier herumstreicht. Soll ich ihm einen Bericht erstatten? Nein, denn Wehner ist mein… zumindest der, dem ich erst einmal erzählen sollte, was man so tun kann und was alles passierte. Genau das mache ich jetzt. Bin ja ein paar Minuten zum Auto unterwegs.
"Wie viele sagen Sie? Rund fünfzig? Wow! Na, Zech, wenn ich Keller richtig einschätze und auch Ihre Infos von Knauber höre, dann ist das doch Ihr Fall, oder?"
Pha, prima. Da stehe ich nun. Mitten im Polenztal, hinter mir ein sicher lachender Keller und ein nervender Wehner am Telefon. Aber wartet nur alle… ich checke das da oben im Ort und dann sehen wir weiter. Natürlich ertappe ich mich dabei, die Friedhofsvariante zu favorisieren. Doch ich weiß auch, dass ich damit sicher kein Glück habe. Wer sollte denn einen Friedhof gerade in diesem Tal und an einer Mühle anlegen, die es nun auch schon einige Jahrhunderte gibt? Niemand natürlich!
Endlich bin ich am Auto. Schnell ein paar Instruktionen an Friedrich. Soll Max heute ruhig mal merken, dass er nicht immer das Kommando hat, wenn ich nicht da bin. Endlich sitze ich im Wagen. Ruhe. Gut. Und doch irgendwie unwirklich.
Kann man eigentlich im Tal sehen, wie hoch das Wasser durchgerast ist? Natürlich, an den Häusern. Zu viele stehen hier nicht. Aber einige schon. Zum Beispiel diese Mühle. Schauen wir doch mal!
Wer mich jetzt beobachtet, der wundert sich sicher. Klar, nach Hohnstein geht es in die andere Richtung. Aber wenig später stehe ich auf dem Parkplatz der Mühle… und sehe die ganze Bescherung. Nun, nicht alles. Aber zumindest, dass Wolf eine Menge zu tun hat, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Die Gewalt des Wassers. Und mittendrin ein altes Fachwerkhaus, das sicher schon weitaus bessere Zeiten sah. Vorn war vielleicht ein Biergarten? Kann man nicht erkennen, denn jetzt ist da nur Schlamm. Das Haus hatte sicher unten den für diesen Typ üblichen weißen Anstrich? Na ja, oder eben gelb. Zumindest wirkt nun alles eher dunkel, eben dreckig. Grau ist da noch geschmeichelt. Das waren Wassermassen! Wäre auch noch so ein Punkt für die Ortschronik. Zumindest zum Nachschlagen. Wann gab es solch eine Wasserhose, wie sie Knauber bezeichnet, das letzte Mal im Tal? Und wann ging die so neben der Straße hinunter, ohne sie richtig zu treffen? Ich bin gespannt. Auch ein wenig verunsichert. Wenn also stimmen sollte, was Wolf sagt, dann habe ich sicher ein Problem. Zumindest, wenn es um seinen Sohn geht. Was hatte der denn nun gerade da zu suchen, wo das Moped im Schlamm steckte? Verdammt… das ist nicht klar. Ich merke, das wird interessant! Aber ich muss nicht alles selbst erledigen. Max hat etwas gutzumachen. Soll er zu Wolf gehen!
Und mein Weg… der führt endlich nach Hohnstein.
"Übernimm hier, Sonja, stimm Dich mit Friedrich und Max ab. Ich weiß nicht, wie lange das da oben dauert. Vielleicht muss ich gleich noch weiter…"
Schon sitze ich im Auto, kämpfe mich von diesem vom Regen mehr als nur durchweichten Platz herunter. Gestern erst habe ich geschimpft, weil die Haustechniker immer noch nicht die Sommerreifen aufgezogen haben. Warm ist es, Sonne soll es auch in den nächsten Tagen geben und jeder Fahranfänger lernt schon, dass sich die Winterreifen in der Wärme nicht gut fahren. Aber jetzt bin ich froh… und denke an die Wiese vor einem Jahr. Privatfahrt. Da habe ich eine Tante besucht. Die wohnt bei Obergruna, nähe Siebenlehn, und ihre Straße ist eher ein kleiner Weg, aber mit einer ordentlichen Schwarzdecke obenauf. Nur eben so schmal, dass gerade ein Auto in eine Richtung hindurch kommt. Und dann stand da der Kleintransporter. Frank Zech konnte es natürlich nicht lassen, wollte auf der Wiese wenden und die Sache von der anderen Seite her angehen. Und schon steckte mein Mondeo fest. Ja, damals hatte ich den noch. Oh, wenn es nicht den freundlichen Bauern gegeben hätte… da wäre ich aber ganz schön ins Trudeln gekommen. Aber jetzt passiert das zum Glück nicht.
Bald fahre ich die Serpentinen nach oben. Die Burg kommt in Sicht. Sieht man von unten kaum. Und doch haben von da mal einige Herrscherfamilien ein ganzes Tal und die ganze Gegend drum herum beherrscht. Auch eine der alten Hauptburgen, wenn heute freilich eher fern ab vom Schuss.
Die Suche beginnt. Gemeindeamt? Auskunft? Wegweiser… vielleicht…? Ja, da steht etwas von ‚Touristinformation'. Stadtverwaltung gibt es nicht mehr, oder? Alles große Gemeinden, bestehend aus allen möglichen Dörfern und Orten in der ganzen Gegend. Aber in der Information erfahre ich sicher, an wen ich mich wenden kann.
"Ja, die Gebietsverwaltung ist zum Teil in Bad Schandau und zum Teil in Pirna. Ich weiß nicht, wer nun gerade für die Geschichte zuständig ist. Aber da unten im Tal… kenne ich keinen Friedhof!"
War mir schon klar. Die Mitarbeiterin wollte helfen und eigentlich war sie auch recht nett… anzusehen. Aber ich suche keinen Friedhof aus den letzten zehn bis hundert Jahren. Zumindest nicht nur. Muss älter sein.
"Versuchen Sie es doch mal drüben im Ratskeller. Der Wirt interessiert sich für Geschichte. Und den Bürgermeister finden Sie dann gleich oben drüber. Vielleicht weiß der, wer all die alten Informationen aufbewahrt!"
Gut, also wenigstens einen Bürgermeister gibt es noch. Ist der Ort nicht eingemeindet? Hmm… Da sollte ich mich erst einmal bei ihm vorstellen, ehe ich die ganze Gegend rebellisch mache. Wird sonst gefährlich!
Ich stehe vor dem Rathaus. Natürlich heute keine Sprechzeit. Was denn sonst. Zumindest gibt es eine Rufnummer am Schaukasten und ich telefoniere gleich mal.
"Ja, aber heute ist da niemand. Da müssen Sie schon morgen…"
Ich weise auf meine Aufgabe und den Einsatz im Polenztal hin. Am anderen Ende scheint man hektisch in irgendwelchen Unterlagen zu wühlen.
"Hier habe ich die private Rufnummer des Herrn Bürgermeister. Der muss das entscheiden. Ich gebe sie Ihnen mal durch, Herr Hauptkommissar!"
Und mit einem fast aus der Hand gleitenden Block und einem akrobatisch am Ohr gehaltenen Handy versuche ich, die Zahlen leserlich hinzukritzeln. Noch einmal wiederholen und dann tschüss… Nächster Anruf. Ein Glück für die Polizeiarbeit. Was wäre denn, wenn es keine Handys gäbe? Man müsste im Gesetz verankern, dass sich die Ganoven und Spitzbuben bitte unbedingt an die Öffnungszeiten der Behörden halten. Sonst ist eine Aufklärung nur sehr schwer und mit Verzögerung möglich. Hahaha! Jetzt habe ich ihn am Ohr, den ersten Mann von Hohnstein. Scheint unterwegs zu sein. Er fährt irgendwo in Sachsen rechts ran. Ich erzähle kurz was ich will.
"Was sagen Sie? Knochen? So viele? Das gibt's doch nicht!"
Realität. Seine Meinung interessiert nicht. Nur ein paar Infos. Und außerdem…
"Nein, ist mir nichts bekannt. Friedhof? Nein! Aber ich drehe um. In zwei Stunden kann ich in Hohnstein sein!"
Gut. Und bis dahin?
"Ja, fragen Sie mal den Wirt. Der hat wirklich immer einige interessante Ergebnisse und Informationen. Ist so ein Hobbyforscher, würde ich sagen!"
Hmm… der klang irgendwie zugeknöpft. Interessiert, aber zugeknöpft. Und jung. Für einen Bürgermeister in solch einer alten Gemeinde, meine ich damit.
Gut, dann auf zum Wirt. Hoffen wir mal, dass der nicht Ruhetag hat… oder eine geschlossene Gesellschaft. In den kleinen Orten kann man nie wissen!
Um das Rathaus herum… schon stehe ich vor einer niedrigen Tür. Richtig alt wirkt das alles. Nein, nicht verkommen. Eher hübsch und gut hergerichtet. Aber eben auf alt gemacht. Man fällt fast in die Küche beim Eintreten. Dann doch eher nach Links in den Gastraum. Und schon stehe ich in einem Gewölbe mit vielleicht fünf Tischen. Nicht viel. Aber wahrscheinlich braucht man nicht mehr Plätze im Ort? Die Zeiten des Massentourismus sind leider vorbei. Mir reicht ja diese Größe voll und ganz! Ich sehe die Frau hinter dem Tresen und gehe auf sie zu.
"Mein Mann ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?"
Ich weise mich aus. Die Wirtin wird bleich. Vielleicht schlechte Erfahrungen mit der Polizei? Ich will es nicht wissen und beginne, ihr ein paar grobe Infos zum Fall im Tal zu geben. Außerdem ist mir soundso noch unklar, warum angeblich niemand etwas von uns bemerkt hat… zumindest bisher. Wie war das mit den Anfragen…?
"Da unten? An der Russigmühle? Nein, keine Ahnung. Aber mein Mann… ich rufe ihn mal an. Vielleicht kann er doch schnell rüberkommen?!"
Ja, wäre prima.
Ich setze mich an einen der Tische. Alle leer. Wir haben Mittag. Sollte ich gleich die gute Küche des Hauses probieren? Nein, lieber nicht. Wer weiß, was ich heute noch so zu erledigen habe. Und das Essen macht mich zwar meist glücklich, aber auch müde. Also nichts mit Schlafen… und Essen. Nur ein Wasser. Das belebt ein wenig. Und lange wird der Wirt wohl nicht auf sich warten lassen.
Keine zwanzig Minuten sind vergangen und Herr Wolther steht vor mir.
"Polizei? Was haben wir denn nun wieder verbrochen?"
Er macht einen leicht genervten Eindruck. Ich kenne keine Fälle, die sich mit Hohnstein oder gar dem Ratskeller beschäftigen. Dabei versuche ich immer, die aktuellen Berichte zu lesen. Zumindest die Zusammenfassungen. Na, vielleicht eine natürliche Apathie gegen die Staatsgewalt? Ich erzähle noch einmal und er grinst.
"Nein, da habe ich keine Geschichte zu. Das mit dem Lager ist ewig her. Aber ich glaube nicht, dass die das da an der Mühle hatten. Und Augenzeugen… Keine. Nur noch einen Alten gibt es, ein wenig verrückt, der Klemm. Aber sein Vater war damals bei den Arbeiten für Schwalbe dabei. Von dem werden Sie nicht viel erfahren. Und Knochen… wie alt sagen Sie? Nein, das ist zu alt. Da gab es doch nicht mal eine Siedlung. Und wer soll denn die Toten da hinunterbringen? Der Kirchhof bleibt bei der Kirche. Das war schon immer so!"
Kein Friedhof, kein Dorf, keine Informationen. Na, wenn dann auch noch der Sell nichts für mich hat, dann hätte ich mir den ganzen Zinnober hier oben sparen können. Verheimlichen die etwas? Glaube ich nicht. Diese Abweisung hat sicher ganz andere Gründe. Aber wer weiß? Ich lasse das mal so stehen und trinke mein Wasser aus.
"Was wollten die Nazis denn eigentlich hier im Felsen bauen?"
Ich denke an die Gemälde, die in irgendwelchen Stollen versteckt wurden. Auch ganze Produktionszweige, Rüstung, V-Waffen, Munition und Fahrzeuge… alles im Felsen. Keine Tarnung weiter nötig. Nur eben die An- und Abfahrt musste man geschickt und möglichst in der Nacht durchführen. Dann konnte niemand von den Aufklärern auch nur ahnen, was vonstattenging. Aber trotzdem… die Arbeiten wurden eingestellt. Und dann verlief die ganze Geschichte erst einmal im Sande. Zumindest wenn ich Hauber und seinen paar Informationen glauben kann. Nur eben… in welchem? Bei der Mühle? Das war keine Erklärung für die alten Skelette. Und erst recht nicht für die beiden jüngeren Opfer. Noch dazu den Sohn vom Mühlenwirt. Wolther schaut mich an. Nicht wissend, aber abwiegelnd.
"Ich habe keine Ahnung. Vielleicht sollte das Sachsenwerk hierher verlegt werden, vielleicht auch die Dampfmaschinenproduktion. Und eventuell war es auch nur ein ganz normaler Stollen, um einige Dinge aus dem allgemeinen Sichtfeld zu bekommen. Mich dürfen Sie da nicht fragen. Gehen Sie zu Klemm. Der ist zwar nicht ganz gescheit, aber manchmal hat auch er einen lichten Moment!"
Toll. Jetzt soll ich also bei einem schon verschrienen Dorftrottel… Moment… das weiß ich nicht. Vielleicht redet er soviel über die alten Tage, dass die ihn einfach für verrückt erklärt haben?
"Wo finde ich Klemm?"
Im ersten Moment scheint es mir gar, als wenn Wolther gar nichts mehr versteht. So wie die Frage ‚Wollen Sie wirklich…?' Aber dann fasst er sich und lächelt. So von oben herab. Wie ich es doch gar nicht mag.
"Gehen Sie zum Markt. Da sitzt er meist am Brunnen. Zumindest wenn es nicht regnet. Ansonsten vielleicht unter dem Torbogen vom Burgzugang!"
Hmm… na, das kann nun wirklich heiter werden! Ich zahle mein Wasser und gehe. Wenn Sell wie versprochen zwei Stunden braucht, dann würde ich hier nur noch eine davon sinnlos herumsitzen.
"Sagen Sie Ihrem Bürgermeister bitte, wo ich bin und dass er warten soll!"
Jetzt wird der Wirt bleich. Warum? Ich lasse ihn, nehme sein Nicken als Bestätigung und gehe. Komisch. Warum schicken die mich erst zu einem alten Mann und wollen es dann doch eigentlich nicht? Und warum wird Wolther bleich, wenn ich vom Bürgermeister rede? Ich glaube, da ist mehr dahinter. Nur… keinen blassen Schimmer, was es sein könnte.
Am Markt sitzt tatsächlich ein älterer Mann, eingehüllt in einen Lodenmantel und mit recht abgelaufenen Schuhen bewaffnet, scheint vor sich hinzureden und in die kaum wärmende Sonne zu schauen.
"Hallo Herr Klemm… Sie sind doch Herr Klemm, nicht wahr?"
Er scheint mich gar nicht zu hören, sieht weiter nach oben und brummelt vor sich hin.
"Herr Klehemm! Herr Wolther meint, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen können?"
Jetzt kommt Leben in seine müden Knochen. Unter dem Schlapphut, den ich eher einem Rübezahl zuordnen würde, schauen mich zwei recht flinke und stechend blaue Augen an. Das Gesicht ist faltig. Klar, und kantig dazu. Nur eben… säuberlich rasiert. Denn ich nehme nicht an, dass er sich vor ein paar Wochen einem indianischen Haarentfernungsritual unterzogen hat. Also pflegt er sich. Nicht so verrückt, wie man mir erzählte. Na, ein Glück. Sonst hätte ich gleich auf dem Absatz kehrt machen können. Noch ehe er antwortet, klingelt mein Handy.
"Sagen Sie mal, Zech, wo treiben Sie sich denn herum? Knauber müht sich mit allen Kollegen und ich helfe ihm sogar, die Knochen zu sichern. Aber der edle Herr Hauptkommissar verdrückt sich in irgendwelche Orte. Was soll das?"
Keller. Manchmal kommt diese alte Ader durch, die ihn als Polizeichef immer unausstehlich machte. Aber jetzt, als Minister, scheint er eher handzahm. Politische Motivation? Vielleicht! Und ich bin wieder einmal in Erklärungsnot. Auch wenn ich es nicht tun müsste, so gebe ich einen kurzen Überblick.
"…und nun warte ich auf den Bürgermeister und unterhalte mich gleich auch noch mit einem Fast-Augenzeugen."
Keller lacht. Ich kann mir sein Gesicht richtig vorstellen.
"Wollen Sie mir einen Bären aufbinden? Seit wann gibt es denn Menschen, die ein paar Hundert Jahre leben?"
Ja, alter Witz. Natürlich für die Schwalbe-Sache.
"Oh, ja… klar. Nur, dass Knauber bisher keine Anhaltspunkte finden konnte, dass es auch Gebeine aus der Nazizeit gibt. Eher bis Ende des 19. Jahrhunderts und dann ab… nun, so in etwa ab Beginn der Achtziger, Neunziger. Das muss er noch mit den Kollegen untersuchen. Aber die Schwalbe-Sache scheint vorerst vom Tisch!"
Hmm… ich mag Knauber. Besonders, wenn er seine Erkenntnisse Keller mitteilt und mich im Regen stehen lässt. Aber trotzdem. Wolthers Art vorhin und auch dieses abfällige Gerede über Klemm… das macht mich ein wenig… nein, ganz schön hellhörig. Mehr noch als Wolfs Ausweglosigkeit und die komische Geschichte mit seinem Sohn. Ich glaube fast noch an einen Unfall. Obwohl… an dieser Rennstrecke scheint das auch nicht unbedingt glaubhaft. Zumal… Ach was. Erst einmal mit Klemm reden. "Keller, ich werde mich beeilen und dann Bericht erstatten. Ich muss auch Wehner anrufen!" "Der steht neben mir und wundert sich auch… nicht über Sie, eher über… na, eben den Fall!" Verdammt. Wehner ist auch da. Konnte er die Füße nicht stillhalten? Wahrscheinlich. Und ich habe den ganzen Ärger. Zum Glück ist Keller umgänglich und weiß, was er an mir hat. Ansonsten… nein, ich will nicht daran denken! Weiter!
"Also, Herr Klemm, der Herr Wolther vom Ratskeller meinte, Sie wüssten einiges über dieses alte Lager. Das Außenlager von Flossenburg hier in der Gegend. Man nannte es wohl ‚Schwalbe III'?"
Klemm fixiert mich, scheint den Zustand meiner Kleidung zu prüfen und setzt sich recht bequem. Ganz nebenbei hielt ich ihm noch meine Marke hin und er lächelt. Der sture Blick war weg.
"Ja, Herr Kommissar…"
Ich korrigierte ihn nicht.
"…das waren keine guten Zeiten. Man musste sich für eine Seite entscheiden. Und mein Vater entschied sich falsch. Leider. Er war einer der Aufseher da. Aber warum interessiert Sie das? Denken Sie, dass die Funde im Tal etwas damit zu tun haben? Nun, ich muss Sie enttäuschen. Zumindest lösen können Sie den Fall nicht durch Schwalbe III!"
Woher wusste…? Na, zumindest habe ich eine erste Antwort.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was man mit den Flossenburg-Leuten gebaut hat. Kommen Sie. Haben Sie ein Auto? Oh, nicht so was… wir brauchen einen Jeep!"
Und schon zieht er mich fast in eine der Gassen, die vom Markt abgeht, etwa gegenüber der Burg. Was wird das jetzt? Wohin will er mit mir? Mir bleibt keine Zeit für Antworten, denn eben stoppt er vor einer Garagenausfahrt. Schönes Fachwerkhaus. Und die Garage scheint man nachträglich da hineingebaut zu haben.
"Helfen Sie mal!"
Wir wuchten das Tor hoch. Diese Art kenne ich. Hatte mein Vater auch. Damals. Für den Trabbi. Ist lange her. Hier kommt jedoch ein Land Rover zum Vorschein.
"Steigen Sie ein!"
Oh Mann, gerade noch wollte ich den Mann wirklich als notorischen Schwätzer einordnen, jetzt vertraue ich mich ihm an. Zumindest seinen Fahrkünsten. Und die sind nicht von schlechten Eltern… eher von ziemlichem Mut geprägt.
Die Serpentinen, die ich gerade noch hinauf tuckerte, die geht es jetzt wieder hinunter. Nur eben viel schneller. Und ich bin froh, dass die Beifahrertür fest schloss. So wie es mich an die da dran drücke… Kurven… vielleicht sehe ich auch noch ein wenig grün aus?
"Winken Sie mal Ihren Kollegen, sonst kommen wir hier nicht weiter!"
Tatsächlich. Max' Sperre taucht vor uns auf und ich wedle, ganz gegen meine Überzeugung, mit meinem Ausweis herum. Die Marke hätte wohl keiner gesehen. Oh, da war Max. Und neben ihm steht doch… Keller! Beide sehen uns sehr verdutzt an. Auch wenn Max mich erkennt, kann er nicht so recht glauben, was da gerade mit quietschenden Reifen auf ihn zukommt.
"Los Max, ich habe keine Zeit. Lass uns durch!"
Schon rennen zwei Beamte auf sein Nicken herzu und wuchten die beiden alles blockierenden Poller zur Seite.
"Na, das ging früher aber schneller!"
Hmm… wann meinte er denn? Irgendwie ist mir nicht wohl bei der Sache. Gerade noch redet er von dem Lager und auch davon, dass sein Vater auf der falschen Seite stand. Und jetzt beschleicht mich das Gefühl, dass er sich mit all diesen Dingen…
"Nein, Ortskreisverband. Ich habe bei den Kommunisten auch mein Leben fristen müssen. Und die haben tatsächlich gedacht, diese Hinterlassenschaften irgendwie nutzen zu können. Aber halten Sie sich lieber fest. Das kann rutschig werden. Die Wege sind nicht für Fahrzeuge gemacht… schmal und hin und wieder auch mal ein paar Absätze. Man kommt aber durch!"
Ich sehe Klemm von der Seite an. Ist er doch verrückt? Verdammt… und ich habe mich nicht einmal von Petra verabschiedet… Aber mein Handy…
"Oh, Sie haben ein gutes Netz. Hier geht nicht alles. Aber die bauen laufend weiter!"
Er lächelt und ich bin froh, dass er gleich wieder auf den Weg schaut, denn die Straße verließen wir schon vor ein paar Sekunden. Immer in Richtung des Gasthauses ‚Polenztal'. Und ich danke Gott… oder wem auch immer… dass das alles noch aussieht wie ein Fahrweg.
"Nicht mehr lange!"
Gut. Ich gehe ran.
"Zech, sind Sie denn verrückt? Was machen Sie denn?"
Keller. Ich versuche, ihm ein paar Worte zuzuflöten. Nicht einfach bei laufend aufröhrendem Motor und diesem Herumgewerfe… ja, mir tut schon die rechte Hand weh. Immer wieder donnre ich an die Tür. Und das Handy… nun, robust scheint es ja doch zu sein. Aber Keller kann trotzdem kaum etwas verstehen.
"Aufpassen!"
Plumps. Da liegt der Kommunikationsknochen irgendwo zwischen meinen Füßen und ich klammere mich an alle Griffe, die ich gerade noch so erreiche. Irgendwie wie diese Wasserrutsche in Plohn… Freizeitpark… da wollte ich Petra den ‚großen Max' vorspielen und war froh, dass sie vor mir saß. Nur wusste ich, dass da zumindest die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls recht gering war. Weniger hier… zumindest bei dem Fahrstil.
Gut eine halbe Stunde sind wir unterwegs. Dann erreichen wir wieder festen Boden… um ihn gleich wieder zu verlieren.
"Das war nur die Straße nach Rathmannsdorf. Brauchen wir nicht. Hier sind wir schneller. Aber da vorn, da sehen Sie schon, wo wir hin wollen!"
Tatsächlich… der Weg ist schmal und der Bach hat sich vorhin geteilt. Heißt wohl, wie Klemm meint, nun nicht mehr Polenz, sondern Sebnitz. Und man sieht… Felswände. Jede Menge.
Klemm fährt langsamer. Er sieht zu mir. "Für einen von diesen schlappen Typen von heute haben Sie sich aber wirklich gut gehalten. Na, egal. Zumindest meinten einige früher, die von Schwalbe III hätten dort an den Wänden gearbeitet. Stimmt aber nicht. Und untergebracht waren sie auch nicht in Porschdorf, sondern drüben in Rathmannsdorf. Vater erzählte immer, dass es ein Wahnsinn sei, die jeden Tag so weit laufen zu lassen. Da sind die schon müde, wenn sie ankommen. Aber natürlich hörte niemand auf ihn. Man munkelte gar, er würde die Kameraden übervorteilen und die Gefangenen zu weich anfassen. Und darauf… nun ja… er hatte eben Glück und blieb einfach still!" Klemm wendet den Jeep. Wohin denn nun?
"Ja, da in der Baude, gleich neben dem Bahnhof, da waren die also untergebracht. Jetzt zeige ich Ihnen, was die zu bauen hatten. Zumindest der größte Teil von denen."
Der größte Teil… und der Rest? Vielleicht verrät er mir das gleich noch?
Wieder geht es wild über Stock und Stein. Ein wenig kann ich den Mann wirklich für verrückt erklären… diese Straße, die wir gerade zum zweiten Male überqueren… steht da nicht ein Wegweiser nach Hohnstein? Verdammt… und wir holpern durch dieses Tal. "Na, na, Herr Kommissar, das ist eben eine Erlebnistour!" Beim besten Willen… ich kann wirklich nicht lachen!
"Aber Sie wollen doch etwas verstehen, oder?"
Ja, nur nicht so. Um ein paar Skelette zuordnen zu können, muss man sich ja nicht selbst zu einem machen lassen. Meine ich zumindest in voller Überzeugung.
Aber jetzt fährt Klemm zumindest etwas langsamer.
"Schauen Sie, diesen ganzen Weg mussten die jeden Tag gehen. Und damals sah das meist nicht so aufgeräumt aus!"
Hmm… aber irgendwie mussten die mit schwerer Technik…
"Nun, was die wirklich hier machen wollten, das ist nie so ganz geklärt worden. Man sprach auch von der Messerschmitt Me 262. Hoffnung der Deutschen sozusagen. So klar oder unklar schien das alles zu sein, dass die bis auf ein paar Fundamente nicht viel schafften. Da vorn. Sehen Sie?"
Irgendeine Struktur taucht unter Laub und Moos auf. Tatsächlich. Ein Fundament.
"Aussteigen lohnt sich nicht. Da sollten mal Generatoren drauf. Und die kamen nicht mehr an. War einfach alles viel zu schnell zu Ende… zum Glück. Und dann mussten die alle zurück nach Flossenburg. Sollten sie. Aber über die Hälfte kam allein auf dem Weg um. Sagt man. Aber…"
Ich schaue immer noch gebannt auf diese Betonteile mitten im Wald. Die Natur scheint sich langsam zurückzuholen, was man ihr nahm. Die Stille… nicht nur das Stehen des Jeeps, auch Klemms Schweigen, holt mich zurück in die Wirklichkeit.
"Ja?"
"Nun, man meint, das der Kommandant, also dieser Göttling, dass der auch noch eine andere Aufgabe hatte. Vater wollte nie darüber reden. Aber manchmal hat er gesprochen… im Schlaf, Sie verstehen? Und dann meinte er, dass man die alten Dinge ruhen lassen muss. Er meinte, dass der Hühnerberg niemals sein Geheimnis hergibt. Alle, die davon wussten, die mussten sterben!"
Hühnerberg. Ich komme mir wirklich wie im schlechten Film vor. Gibt es nicht die Kindergeschichte von den ‚Wilden Hühnern'? Hat das was damit zu tun?
"Der Hühnerberg. Kennen Sie nicht? Sie haben doch ringsherum alles abgesperrt!"
Hühnerberg… ich greife in mein Jackett. Zum Glück ist das strapazierfähig. Und auch nicht dreckig… obwohl ich mir mehr als reif für eine Dusche vorkomme… nach dieser Fahrt. Das Schlimmste ist, dass noch einige Kilometer vor uns liegen… zurück nach Hohnstein.
"Ja, schauen Sie nur. Der Hühnerberg liegt zwischen Wartenberg und der Mühle. Dieser Wolf weiß gar nicht, auf was für einem interessanten Boden der sein Geschäft betreibt. Und manchmal auch übertreibt. Ich mag den Kerl nicht. Sein Sohn ist ganz in Ordnung. Der bekommt wenigstens den Mund auf, wenn ich ihn grüße. Aber der Alte… nein, komischer Kauz!"
Weiß er noch nicht, dass Jens Wolf tot gefunden wurde. Und zum ersten Mal sehe ich Klemm kräftig schlucken.
Endlich finde ich den Hühnerberg auf der Karte. Tatsächlich… da kommt der Grund raus, den man gesperrt hat. Aus was für Gründen auch immer. Gleich daneben liegen die Mühle, unser Parkplatz, die Serpentinen. Alles da.
"Und Sie wissen nicht, was Ihr Vater gemeint haben könnte?"
Klemm schüttelt den Kopf.
"Muss eine alte Sache gewesen sein. Hatte sicher nichts mit dem Lager und den Nazis zu tun. Und woher Göttling es nun wusste…? Man sagt ja, dass er sich ein Mädchen von hier nahm. Die im BDM, die hatten doch immer nur den Kopf voll mit Männern. Trug einer Uniform und sah auch noch einigermaßen gut aus, dann konnte er sich unter den jungen Dingern bedienen. War er dazu in einer tollen Position, stellte was dar, dann sind sie ihm die Bude eingerannt. Vater erzählte mal, wie drei solche BDM-Mädels eine Jüdin an den Haaren über einen Dorfplatz gezerrt haben und ihr die Brüste aufschlitzten, weil sich ein Offizier in die verguckte. Und das Dumme war… der zog ein paar Tage später ab und machte sich aus allen Vieren nichts. Verrückte Zeiten damals!"
Natürlich. Und doch… was will er mir damit sagen?
"Nun, der Göttling war vielleicht ein ‚guter Nazi'. Aber er war auch nur ein Mann. Und er machte sich vor den Weibern groß. Auch wenn die ohne all das die Beine… nun, Sie wissen schon. Quatschen musste er auch immer. Über den Hühnerberg und diese alte Geschichte, die irgendwie schon ein paar Jahrhunderte zurückliegen soll. Weiß auch nicht. Aber ich denke, da findet man irgendwo Hinweise. Keine Ahnung, ob das, was ich da mal hörte, auch stimmen kann. Ist mir zu dumm… oder eher so eine Abenteuergeschichte."
Was hat er denn gehört?
"Oh, das sage ich lieber nicht. Aber ich weiß, dass Göttling zwanzig von seinen Gefangenen, und auch noch einige Wachmänner, abstellte, da oben zu graben. Nicht an der Mühle. Das war unnütz. Nein, am Berg. Und irgendwo muss es von den Grabungen noch Spuren geben. Nur eben, dass es keiner wahr haben will. Hat mich meinen ganzen guten Ruf gekostet. Und diese verdammten Ortsvorsteher, Bürgermeister und Abgeordneten, die haben mich gleich für alt, verkalkt, ja eben verrückt erklärt. Dabei klingt das eigentlich logisch. Aber ich sage es nicht mehr. Schauen Sie in die Ortschronik. Da finden Sie sicher, was Göttling suchte. Und wenn nicht… dann schauen Sie sich einfach den Berg an. Keine Ahnung, ob er fündig wurde. Zu schnell soll der Abzug dann per Befehl angeordnet worden sein. Da kann man gleich wieder eine ganze Menge vermuten. Aber was soll's? Ich hab' Ihnen gezeigt, was ich weiß. Und jetzt, Herr Kommissar, bringe ich Sie zurück. Machen Sie, was Sie wollen. Ich glaube nicht, dass Sie das Rätsel lösen. Aber eines können Sie mit Sicherheit… Unruhe in all das hier bringen. Nicht umsonst will Wolther mich für Verrückt erklären lassen. Und Sell macht eh' nur, was Wolther will. Nehmen Sie sich also in Acht!"
Ich mich in Acht nehmen? Eine Warnung? Aber warum? Was weiß Klemm? Was hatte mir dieser Wolther verschwiegen? Und warum sollte Sell, der jetzt sicher gerade in Hohnstein eintraf, was gegen mich unternehmen? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir ein paar Fakten zusammenpuzzeln müssen. Die Skelette, einige aktuelle Tote, vielleicht dieses Lager und eine ganze Menge Verschwiegenheit. Klemm… ich muss unseren Recherchespezialisten Friedrich unbedingt auf den ansetzen. Auch auf Wolther. Aber erst einmal festhalten. Sehr sogar, denn Klemm schien es zu genießen, seinen Land Rover mit höchster behördlicher Genehmigung über diese Piste rasen zu lassen. Ich denke, da werde ich mir von den Herren dort oben in Hohnstein noch einiges anhören können. Aber zum Glück habe ich ein dickes Fell… und Wehner… der wird das schon irgendwie in Ordnung bringen.
"Vorsicht!"
Fast zu spät erkenne ich den Felsbrocken hinter der Kurve. Lag vorhin noch nicht…
Klemm bremst. Er wirft sogar den Rückwärtsgang ein. Ich sehe das alles wie in Zeitlupe. Und doch… irgendwie schafft er es und wir steheh… nein, nicht nur eine Briefmarkendicke von dem Felsen entfernt. Eher einen guten Meter daneben.
"Verdammt… wo kommt der denn her?!"
Er springt aus dem Wagen, läuft zum Brocken. Kopfschüttelnd schaut er nach oben.
"Also von allein fällt so ein Monster sicher nicht vom Ziegenrücken runter!"
Ziegenrücken… da fuhren wir bis gerade drunter entlang.
"Ja, da oben… aber die Bergwacht hat doch erst vor einem halben Jahr alles gecheckt. Gut, der Winter. Aber doch nicht so. Und gerade jetzt…"
Dann wird er still, scheint in sich zu gehen. Und schließlich trottet er zurück, steigt ein und startet den abgewürgten Motor.
"Wollen Sie hier über die Wiese…?"
Ich denke an meinen Mondeo und diese Schlammfahrt. Aber ich habe keine Chance… schon steht Klemm auf dem Gas und jagt den Jeep um den Brocken herum.
"Die schüchtern mich nicht ein!"
Wer? Wann? Warum? Und während wir nun den Weg zurück rasen, Klemm aber an jeder Biegung merklich langsamer wird und scheinbar noch so einen Zufall erwartet, da scheint auch in ihm noch einiges vorzugehen. Wenn er nur eben nicht all seine Wut, ob begründet oder nicht, an diesem Wagen auslassen würde!
Schließlich sind wir auf der Straße und Max winkt uns durch die Sperre. Zwar mit ungläubigem Blick, aber bestimmt. Oben meint Klemm dann beim Aussteigen
"Gut, Polizei, ich mache mit!"
Was auch immer das zu bedeuten hat.
Als ich aus dem Jeep steige und gerade noch ein paar Worte mit Klemm wechseln will, höre ich hinter mir Schritte. Nein, ich wirble nicht herum. Aber ich wundere mich. Die Gasse war bis eben leer.
"Sind Sie dieser Kommissar Zech?"
Ein jüngerer Herr im Businesslook steht da und scheint reichlich genervt zu sein. Und doch nicke ich nur.
"Mann, ich fahre da mit knapp zweihundert über die Piste, riskiere noch an allen möglichen Stellen eine Panne oder auch Ihre Kollegen, und dann muss ich hören, dass Sie mit diesem Spinner durch die Gegend ziehen. Wenn das Ihre Polizeiarbeit ist… na, dann prost Mahlzeit!"
Oh, der hat aber eine enorm schlechte Laune. Und ich vermute sicher richtig, wenn ich in ihm den Bürgermeister sehe.
"Nun, die Ermittlungen, Herr Sell, die sind meine Sache. Da haben Sie keine Ahnung. Der Ort ist vielleicht Ihre. Wobei ich fast glauben möchte, dass Sie da auch nicht in allem Ahnung haben. Oder was ist das für ein Knochenfeld unten im Tal?"
Gerade will er noch wegen meiner ersten Worte in die Luft gehen, nun bleiben ihm selbige eher weg. Wie ein Häuflein Elend steht er da und weiß nicht, wie er die augenscheinlich von ihm so schlecht gemachte Situation noch zurechtrücken soll.
"Na, Herr Sell, vielleicht können wir uns irgendwo hinsetzen und ein wenig reden? Muss ja nicht im Ratskeller sein!"
Ob er diese Anspielung so verstand, wie ich es meine? Keine Ahnung. Er hat jedoch keine Erwiderung, nickt nur langsam, ehe er mir vorangeht. Klemm grinst.
"Und ich soll der Verrückte sein. Na, dann noch viel Spaß bei der Sache. Und wenn Sie mal Jemanden zum Reden brauche… gern fahre ich mit Ihnen ein Stück!"
Klemm und sein Sarkasmus! Ich tue so, als wenn ich es nicht gehört habe und folge Sell, der dem Café am Markt zustrebt. Aha… nicht zum Rathaus. Na, das sprach wirklich Bände! Und schon bin ich ihm hinterher.
Klemm… der wird immer noch grinsend in der Gasse stehen. Ob ich mich umdrehe? Nein, soll er seinen Jeep selbst in die Garage bringen. Woher, um alles in der Welt, hat der nur das Geld für dieses top sanierte Haus und den Wagen? Der sieht nicht gerade so aus, als wenn er bei allen Jobs der Welt den Chef macht. Na, geht mich eigentlich nichts an!
Im Café sitzen wir nicht am Fenster. Eher in der dunkelsten und hintersten Ecke.
"Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, aber in diesem Ort hat man manchmal recht eigentümliche Ansichten, wenn es um Vergangenheit und deren Bewältigung geht. Da müssen Sie auch verstehen…"
Ich winke ab. Was ich von dem Mann will, ist sicher nicht sein Kopf und erst recht nicht seine Karriere. Vielmehr brauche ich Klarheit.
"Was, Herr Sell, was wissen Sie über dieses Knochenfeld?"
Ich beobachte ihn genau.
Mein Gegenüber schickt sogar die Bedienung fort, als sie uns nur nach unseren Wünschen fragen will. Und das auch noch in einem dermaßen unwirschen Ton… na, da war doch etwas im Argen!
"Zu allererst möchte ich Sie etwas fragen, Herr Kommissar… ähm… Hauptkommissar… also… darf ich?"
Er wirkt durcheinander. Und ich habe noch keine Ahnung. Natürlich. Klemm konnte mir einige Bedenken auflösen. Zumal ich soundso nicht an die direkte Verbindung mit Schwalbe III glaube. Aber die anderen Dinge, die er erzählte, die machen mich betroffen. Warum, und diese Frage stelle ich absichtlich nicht sofort, warum lässt man den alten Mann nicht einfach reden? Warum macht man ihn zum Verrückten? Das war er mit Sicherheit nicht. Er hat vielmehr einige Informationen, die andere in arge Bedrängnis führen würden…
Ich nicke Sell zu. Der scheint erleichtert. Und auch das erschloss sich mir nicht.
"Ja, wissen Sie, Herr…"
"Sagen Sei einfach Zech, der Kommissar ist eine feine Sache, aber in der Unterhaltung eher hinderlich!"
Dankbar grinst er mich an. Ein junger Mann eben, der aus was weiß ich für Gründen auf dem Stuhl des hiesigen Bürgermeisters landete.
"Nun, Herr Zech, da ist meine Frage: Was, um alles in der Welt, hat Sie denn nun gerade in dieses Tal geführt? Da ist doch nichts. Und die Knochen… die findet man sicher nicht durch Zufall, oder?"
Er ist scheinbar ein Kind jener Tage, in denen man immer und überall eine Verschwörung vermutete. Na, wenn das unsere Zukunft sein soll… dann Prost Mahlzeit! Ich versuche, ihm im Rahmen der Möglichkeiten einen kleinen Überblick zu geben. Dabei rutscht mir auch heraus, dass Jens Wolf tot geborgen wurde.
"Jens? Das ist doch nicht wahr, oder?"
Verwirrung. Ich nutze den Moment, hab' soundso eine trockene Kehle, und bestelle mir ein Wasser. Außerdem noch ein Kännchen Kaffee und eine Eierschecke. Die ist vielleicht nicht wie die Dresdner, aber zumindest ein wenig sättigend. Dummerweise wollte ich vorhin im Ratskeller nichts essen. Wobei… vielleicht auch nicht schlecht?
Sell fängt sich nach einer Weile und berichtet von seinen Jugendtagen. So gegen Ende der DDR geboren, alle bekannten Unwägbarkeiten jener Zeit miterlebt und die Ruhe und Geborgenheit bei den Freunden gesucht.
"Jens gehörte immer dazu. Und er war ein echt guter Kumpel. Nur eben ein wenig zu… nun… zu ehrlich vielleicht. Erst seinem Vater gegenüber… und dann allen. Verrückt eigentlich, dass er genau da, als er sich immer mehr Feinde schuf, seinen Vater zurückgewann. Und dann kam dieser Klemm auf den Plan. Der lebte früher gar nicht hier in Hohnstein, sondern drüben in Rathewalde. Zumindest seit ich denken kann. Der kam plötzlich, hatte Geld und kaufte dieses alte Haus."
Fassungslos über seine eigenen Worte schüttelt er den Kopf.
"Ich hab' schon immer gesagt, dass der irgendwie komisch ist. Gefährlich gar. Und keiner wollte mir glauben. Bis… ja, bis…"
Er schluckt. Ich winke und er bekommt auch ein Wasser, was ihm zumindest die Stimme rettet. Nicht jedoch seine anfängliche Lockerheit. Hat sicher seine Gründe…
"Nun, der Klemm, der behauptet immer, dass einige hier im Ort zu den Nazigrößen gehörten. Wir sollen doch einfach mal die alten Chroniken durchgehen. Da werden wir schon merken, was er meint. Und Jens und ich besorgten uns diese Bücher in Dresden. Als das dann möglich war… Kopien natürlich. Aber eben die wirklichen Dokumente. Einer der Alten hatte sie gerettet und musste das mit seinem Leben bezahlen. Wurde zumindest gemunkelt. Und dann lagen sie schließlich vor uns, diese Seiten. Große Enttäuschung. Nichts, was wir wirklich lesen konnten. Altdeutsche Schrift. Der Klemm… ja, der muss gemerkt haben, dass wir der Sache auf der Spur waren. Er stachelte uns an. Wir sollten zur Polizei gehen. Er selbst hätte da keinen guten Stand. Aber wir, wir könnten das. Doch als er mit fantastischen Geschichten anfing, hatte ich die Nase voll. Er meinte wohl, uns ködern zu können. Na ja, mir liegt zwar die Wahrheit. Aber doch nicht irgendwelche Storys, die ein krankes Hirn ausbrütet… nein! Jens war natürlich sauer. Er packte die ganzen Kopien, stopfte sie in seinen Rucksack und ging. Das ist ein paar Jahre her. Und seither ist unser Verhältnis nicht das Beste… gewesen."
In diesem Moment kommt es Sell erst ein, dass sein Freund tot ist.
"Verdammt. Glauben Sie, dass das damit zusammenhängt?"
Ich kann ihn nicht beruhigen. Noch weiß ich nicht viel. Und Klemm trägt mit seinen Eskapaden auch nicht gerade dazu bei, dass ich die Sache klarer sehe.
"Wie sind Sie denn bei diesem ganzen Durcheinander Bürgermeister geworden?"
Falsche Frage? Zumindest schaut er mich recht verdutzt, gar abweisend an.
"Wenn Sie denken, ich habe die Leute bestochen, dann ist das nicht so."
Nichts liegt mir ferner. Ich weiß doch, dass hier Parteien den Vorzug erhalten, die man in der Stadt und im übrigen Land doch etwas skeptisch betrachtet. Eben wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Ich hüte mich, ihm das ins Gesicht zu sagen. Denn soweit ich Max vorhin verstand, muss Sell wohl gar parteilos sein. Ein Vorposten für besondere Dinge?
"Nun, ich habe einfach kandidiert. Natürlich bekam ich genügend Unterstützung. Aber ich verlor auch einige Freunde!"
Freunde… auch Jens Wolf? Er weiß, was ich denke. Und er nickt.
"Ja, auch ihn."
Hmm… ein Motiv? Nicht ein Indiz deutet bisher auf eine Straftat hin.
"Ich mag Jens. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum wir…"
Nein, er kann nicht weitersprechen. Die Tränen. Gut, dass wir etwas abseits sitzen und die Bedienung, die sicher ebenso im Ort wohnt, nichts von alledem mitbekommt.
"Ja, Herr Sell, ich muss das fragen. Wo waren Sie denn gestern, so vom Nachmittag bis zum zeitigen Abend?"
Knauber legte sich nicht zu genau fest. So in etwa kann das der Todeszeitpunkt sein.
Sell schaut fassungslos.
"Ich kann doch nicht… nein… Sie können… ich muss… nein… ich habe doch…"
Gestammel. Und irgendwie… ich glaube ihm.
"Können Sie sich vorstellen, dass Jens Wolf vielleicht die Unterlagen übersetzt und dann ausgewertet hat, seit Sie nicht mehr mit ihm verkehren?"
Das klingt ihm zu hart.
"Wir haben verkehrt, wie Sie das nennen. Wir haben eben nur nicht mehr laufend zusammen herumgehangen. Besonders, als ich von dieser Liste aufgestellt wurde und alles aussah, als wenn so eine Wahl ein großer Spaß werden könnte. Er wollte nichts mehr von mir wissen, meinte einmal, dass unsere Ideale sicher nicht in einem Amt in dieser Gemeinde liegen und dass er mich darum eben nicht verstand."
Hmm… er hatte also mit diesem Sell gebrochen. Und der kapierte einfach nicht, dass es eben nicht um irgendeine kleine Sache ging, sondern um die Papiere.
"Ja, ich wollte ihm auch nicht mehr zuhören, denn er war laufend mit diesem Klemm zusammen. Der vergiftet doch alles! Das konnte ich mir nicht anhören. Und auch nicht anschauen. Zumal Wolther meinte, dass ich schon ein paar Unterschiede zwischen Gestern und Heute machen müsse, wenn ich wirklich daran interessiert wäre, diesen Ort zu leiten. Na, und nach den ersten Erfolgen, da war ich das auch!"
Politik. Ich denke an Keller, der seinen Biss nur noch uns gegenüber ausspielt. Wie sagt man so schön? Politik verdirbt den Charakter. Nicht immer, aber zumindest in diesem Fall. Sieht so aus. Und nun ist Jens Wolf tot. Warum auch immer. Aber… die Papiere… wenn man an die vielleicht… ja, das wäre es doch!
"Hat Jens Wolf Ihnen jemals erzählt, was genau in diesen Unterlagen stand?"
Das Gespräch muss zu den Ursprüngen zurück. Diesen ganzen Leidensweg… den kann man sich dann später immer noch einmal anhören. Jetzt geht es um die Knochen… und um den Toten unter dem Moped. Aber Sell schüttelt nur den Kopf, schaut traurig in sein leeres Wasserglas und zittert beim Sprechen.
"Nichts. Er hat sich gehütet, mir davon zu erzählen. Er wusste doch, dass ich das alles nur für dummes Geschwätz hielt. Aber jetzt, wenn Sie wirklich was gefunden haben… ich hätte nie gedacht… das kann doch alles… aber vielleicht weiß Klemm, was da ist? Er wusste doch auch, wo wir suchen mussten, oder?"
Eine gewisse Logik hat das. Aber… wenn er etwas weiß und dazu auch noch Beweise hatte… warum schickt er dann diese Lauser… damals waren sie das sicher noch… in die Spur und macht es nicht selbst? Nur um bestätigt zu werden? Oder sollten sie eine Drecksarbeit machen, die er sich allein nicht zutraut?
"Haben Sie noch Kopien von damals?"
Sell schüttelt den Kopf.
"Das hat alles Jens mitgenommen. Ich wollte davon nichts im Hause haben. Zu brisant… und zu verrückt!"
Und woher bekamen sie das damals alles?
"Landesbibliothek. Da kannten wir eine Frau. Nicht ich. Jens auch nicht. Klemm kannte sie vom Namen her. Älter. Nur eine der Angestellten. Aber eben doch mit den entsprechenden Rechten. Zugriff und so. Denn diese Dokumente waren eigentlich für den freien Bibliotheksverkehr gar nicht freigegeben. Warum auch immer. Er redete mit ihr und bekam sie recht schnell rum. Wir mussten nur hinfahren, sagen, wer wir waren, und bekamen einen ganzen Stoß. Fein verpackt. Nur eben in Altdeutsch. Nicht zu lesen. Auch Klemm konnte kaum etwas entziffern. Er schimpfte immer, dass wir uns nicht genügend anstrengten. Nun ja, und dann hatte ich die Nase voll. Damals waren wir auf Seite Drei. Nicht ein Wort von einem Lager, einem Geheimnis. Nur eben über diese blöde Teufelsbrücke. Uns wunderte zwar, was die da schrieben. War vielleicht auch nur ein Lesefehler. Die meinten zumindest… na, tut nichts zur Sache!"
Teufelsbrücke. Hmm… noch nie gehört.
"Was ist mit dieser Brücke?"
Sell will es nicht sagen.
"Ist zu kindisch. Hat sicher nichts damit zu tun. Eben ein Fehler. Mehr wohl nicht."
Ich will schon aufbrausen, ihn darauf hinweisen, dass ich das bestimme. Aber dann beginnt er, von allein zu reden.
"Nun, wir kennen ja die Geschichte der Brücke. Zumindest so, wie man sie heute darstellt. Soll nicht zu alt sein. Beginn 19. Jahrhunderts. Aber… in den Kopien stand was von einer Teufelsbrücke an gleicher Stelle, die schon Hunderte Jahre älter sein sollte. Aus Stein und Holz. Älter und einfacher als die, die man heute vom Hockstein oder von der Wolfsschlucht aus erreicht. Und das war mir nun wirklich zu blöd. Zumal was von einem Schwur der Bewohner dastand. Einem, der den Teufel nicht fernab der Gefilde hielt, sondern ihm gewisse Rechte einräumte. Und was sollten das für Rechte sein? Natürlich, Seelen, Menschen, Tote. Eben so. Das passte eher zu einer Abenteuergeschichte, aber doch nicht in die Chronik von Hohnstein! Ich hab' drüber gelacht. Und Jens war begeistert. Kaum zu bremsen gar. Er hatte, wie man so schön sagt, Feuer gefangen. Und das war mir einfach zu viel. Verstehen Sie das?"
Es ist nicht meine Aufgabe, andere zu verstehen, muss es trotzdem können. Und noch verstehe ich Bahnhof. Irgendwie sehe ich einen jungen Mann mit brennendem Haarschopf. Na ja, und grinsen muss ich darum.
"Klar, Sie glauben mir auch nicht. Und ich wollte davon ebenso wenig wahr haben. Aber Jens machte weiter und ich bekam ihn kaum mehr zu Gesicht. Einmal nur…"
Er überlegt und sieht mich an, als wenn er nicht mich, sondern vielleicht seinen Freund aus alten Tagen vor sich sitzen hätte.
"…ja, da war ich gerade gewählt. Er meinte so komisch, dass ich nun verloren wäre und niemals erfahren würde, warum. Dann stand er auf und ging mir nur noch aus dem Weg. Selbst als ich letztes Jahr meinen Geburtstag in seiner Mühle feiern wollte… er war nicht zu sprechen. Nur sein Vater. Der lehnte meine Bestellung ab. Das hab' ich noch nie erlebt… Jens war immer für eine Überraschung gut."
Ich denke nicht, mehr Brauchbares aus ihm herauszubekomme. Daher bezahle ich unsere Getränke und danke Herrn Sell. Der sieht mich natürlich verdutzt an.
"Wollten Sie denn nicht… nun ja… ich weiß ja auch nicht mehr. Aber… kann ich mir das da unten mal anschauen?"
Natürlich, er als Bürgermeister hat vielleicht ein Anrecht darauf. Aber ich muss ihn enttäuschen. Knauber räumt schon alle Überreste, die wir finden konnten, weg und ich nehme an, dass man das Tal, sollte es in den nächsten zwei Stunden keine weiteren Funde mehr geben, sicher noch vor dem Abend freigibt. Knapp und schnell, aber ich denke, dass das die richtige Entscheidung ist. Immerhin müssen die Anwohner irgendwie nach Hohnstein oder Pirna kommen… und immer Umwege über's Hinterland… Ja, andermal nehmen wir nicht soviel Rücksicht. Aber hier… Zumindest wenn Knauber zustimmen sollte. Nur dann!
"Ja, Herr Sell, ich komme sicher noch einmal auf Sie zu!"
Teufelsschwur. Zum Lachen! Gut, früher war das sicher auch mal ein guter Grund, sich einige Gedanken zu machen. Und nicht selten sollen die verschiedensten Opfer gebracht worden sein. Aber doch nicht mehr im 15. Jahrhundert, oder? Nun, vielleicht doch? Ich werde es erfahren. Und das brachte mich darauf, dass ich endlich den Kollegen im Tal einen Bericht geben musste. Wehner wird toben. Und Keller… wenn es ihn noch im Tal hielt, dann wäre das zumindest wichtig. Also hinaus auf den Markt und ins Auto. Wo…? Ja, da steht der Audi!
Als ich vor meinem Dienstwagen stehe, fluche ich leise. Hätte ich vielleicht doch lieber die Einsatzmarke hinter die Frontscheibe legen sollen? Die Politessen machen vor Niemandem halt. Selbst hier und an einem Tag, an dem sicher nicht zu viele Touristen kommen. Oder gerade darum? Nun, wenigstens nur 15 Euro. Das wird im Büro abgeschmettert. Ich muss den Zettel schnell an Max geben. Der erledigt das.
Die Serpentinen wieder hinunter. Ganz schönes Gekurve. Als ich das letzte Mal hier in der Gegend war, da sind wir natürlich gelaufen. Petra und ich. Und da kann man immer gerade über diese Kurven drüber. Einmal gibt es gar eine Unterführung. Ein Stück geht man durch steilen Wald. Da kommt man direkt an der Rennstreckenkreuzung raus. Jetzt aber ging es mit dem Wagen hinunter.
Ich sehe die Kollegen. Hupe. Lichthupe dazu. Schon springt ein Beamter vor und will mich stoppen, sieht aber mein Blaulicht, das ich gerade aufs Dach klippe. Kostet mich zwar fast eine Schramme an der Beifahrerseite, da es wieder recht eng zugeht. Aber er schiebt die Poller rüber und ich husche hindurch, immer in Erwartung, einen meiner Männer… oder Chefs… zu entdecken.
Oh verflixt, das sieht ja schon aus wie ein Zigeunerlager… verschiedene Einsatzfahrzeuge, Kollegen mit Stöcken und Eimern, kleinen Spaten und Netzen. Die sollen wohl den ganzen Bach absuchen… Fluss eher. Dann wird das mit der Freigabe heute sicher nichts mehr. Wenn Knauber intensive Suche anordnet, vermutet er sicher noch mehr Gebeine ringsum. Gut, dann müssen wir das eben auch noch zulassen!
Endlich sehe ich Wehner, der sich mit Sonja unterhält. Sie winkt mir und der Staatsanwalt schaut mich recht finster an. Natürlich halte ich gleich da. Ein wenig an der Seite, falls die Kollegen durch müssen. Und schon wettert er los. "Sagen Sie mal, Zech, was soll das? Wir warten hier und Sie fahren uns alle fast mit einem wild gewordenen Jeep um. War da der Teufel hinter ihnen her?" Teufel… ich denke an Sells Ideen. Nein, das konnte nicht wirklich stimmen. Das war doch nur so ein dummes Gerede, oder? Wehner muss ich ins Bild setzen. Er schluckt während meines Berichts. Und Sonja muss sich ein paar Tränen verdrücken.
"Mein Vater ist in Flossenburg umgekommen. Drüben in Bayern. Niemand nahm wirklich Notiz davon. Nicht in der DDR-Zeit… und auch nicht danach. Er war ein Politischer, passte damit nicht ins Bild der Kriegsgefangenen von Flossenburg."
Dieses Lager scheint ja eine ganze Menge Staub aufgewirbelt zu haben. Unklar, wozu ein Bayernlager eine Außenstelle in der schönen Sächsischen Schweiz brauchte.
"Oh, glaub nur nicht, Frank, dass das die Einzige war! Massen Lager gab es. Natürlich meist nicht alle zur selben Zeit. Aber trotzdem. Die verteilten sich bis nach dem heutigen Polen und in die Tschechei hinein. Da waren die mit ihren Hauptlagern nicht sehr erfinderisch, die Nazis. Und meinen Vater… niemand weiß, wo man ihn wirklich umgebracht hat. Vielleicht auch hier?"
Ich drücke Sonja die Hand. Mehr kann ich jetzt nicht tun.
"Meinen Sie, Zech, dass diese Kerle in Hohnstein etwas verheimlichen?"
Wehner versucht, die Beratung zurück zum Fall zu bringen. Und ich bin ihm dafür ganz dankbar. Nichts ist schlimmer, als wenn sich Sonja nur noch mit der alten Familiengeschichte beschäftigt. Zumal, wenn man Knaubers Einschätzung glauben darf, die Knochen auf dem Feld zumindest keinen direkten Bezug zu Schwalbe III haben. Na, denke ich zumindest. Aber wissen kann man es nie!
"Ich gehe davon aus, dass der Klemm mehr weiß, als er sagen will. Sell wollte sich aus vielen Dingen raushalten. Und der Jens Wolf, der Sohn vom Wirt der Russigmühle, der hatte vielleicht alles erfahren. Oder eben soviel, dass er nun sterben musste. Hat Knauber schon was zur genauen Todesursache gesagt?"
Den Ball zurück geben. Ich versuche alle auf dem Laufenden zu halten und bekomme nur Schelte. Nicht die feine englische, erst recht nicht die Art der Dresdner Polizei!
Wehner schüttelt den Kopf.
"Wir können hier abbrechen. Und wenn Senner mit dem Wirt fertig ist, dann gibt es hier nichts mehr zu tun. Keller dampfte schon vor gut einer Stunde ab. Der war vielleicht gereizt, weil Sie ihn so im Regen haben stehen lassen!"
Von wegen! Aber wenn er meint, dass ich das tat… dann sollte ich ihn zumindest heute Abend anrufen!
Ich frage nach dem Ort, wo Max den Wolf vernehmen wollte. Natürlich, in der Mühle. Gut, dann fahre ich da jetzt hin und hinterher nach Dresden. Friedrich muss ich auch noch suchen. Wenn ich dann ankomme, kann mir Knauber sicher schon Genaueres zum Genickbruch von Wolfs Sohn sagen. Den nimmt er sich mit Sicherheit gleich vor. Da kenne ich ihn einfach zu gut!
Im Grund an der Rennstrecke regt sich nichts. Die Kreuzung liegt hinter mir und ich weiß, dass wir mit Sicherheit eine ganze Menge Unruhe in die Leute rund um die Burg über mir gebracht haben. Vielleicht beginnt doch einer zu reden. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass die wirklich Genaueres wissen… obwohl… wenn der junge Wolf was wusste und sterben musste? Na, da kann mich Knauber aufklären!
Schon parke ich vor der Mühle. Auch der graue Opel steht da. Mit dem ist Max gekommen. Noch ist er hier.
Ich gehe hinein, höre schon von Weitem Max Stimme. Er scheint gerade zusammenzufassen. Das bringt vielleicht etwas.
"Ah, Frank… wir sind gerade fertig. Nicht viel. Aber Herr Wolf meint, dass es eine Verbindung geben muss. Sein Sohn zog sich immer mehr zurück. Und in der Nacht… zumindest kann er sich das nicht anders vorstellen… in der Nacht muss er mit dem Moped losgefahren sein, um irgendetwas zu klären. Nur, dass er eben nicht wieder kam. Unklar ist noch, was er klären wollte."
Ich sehe zu Wolf. Der sitzt da wie ein Häuflein Elend. Der einzige Sohn, keine Frau und nun diese Mühle ohne Nachkommen… Sicher sollte Jens Wolf das alles übernehmen. Aber nun?
Max nimmt mich beiseite.
"Der Junge hatte einen Rucksack dabei. Schwer soll der gewesen sein. Und… Du ahnst es sicher… den haben wir nicht gefunden!"
Hmm… kann ja weggespült worden sein? Zumal er vielleicht lieber alles von sich warf, als er in dem Schlamm und Wasser nicht weiter kam,. Nur… warum lag er dann unter dem Moped? Wäre das nicht eher Hinweis darauf, dass jemand Jens Auftauchen, lebend oder tot, verhindern wollte? Weit hergeholt? Vielleicht. Aber mehr haben wir jetzt nicht.
"Warst Du schon in seinem Zimmer?"
Max schüttelt den Kopf. Und ich sehe Wolf fragend an. Der nickt nur.
"Oben, den Gang links und das letzte Zimmer rechts!"
Paar Stufen. Wir steigen hoch und finden die Tür unverschlossen. Sieht nicht aus wie eine Junggesellenbude. Sehr aufgeräumt. Und doch irgendwie komisch.
Ich gehe die Bücher im Regal durch. Alles Literatur neuerem Datums. Zwei ganz alte Rücken stehen an der Seite. Geschichte und Sagen aus Sachsen. Zwei Ausgaben desselben Titels. Nur eben gut fünfzig Jahre Unterschied im Druck. Steht drin.
"Die nehmen wir mit. Hauber soll sich das anschauen. Vielleicht findet er was!"
Und zu den anderen neuen Büchern, die sich auch alle mit dem Nationalpark, den Orten an der Elbe und dem Raum um Dresden beschäftigten, nicke ich nur und Max versteht. Ja, die kommen auch mit. Kein Computer im Raum. Hmm… muss ja selbst heute nicht unbedingt sein. Weiß ich. Dafür eine Wimpelsammlung. Nichts Besonderes. Einige kenne sogar ich. Weltfestspiele 1973, damals in der DDR, auch einige Wappenwimpel von Städten im heutigen Sachsen. Ansonsten spartanisch. Ein wenig Wäsche. Vorsichtig, um Wolf nicht noch gegen uns aufzubringen, sehen wir den Rest durch, finden aber nichts wirklich Wichtiges. Prima. So kommen wir auch nicht weiter. Vielleicht sind die Bücher doch noch zu etwas gut.
Max stellt eine kurze Liste zusammen. Die muss Wolf gegenzeichnen. Immerhin soll er ja alles eines Tages wiederbekommen. Und er schaut nicht einmal wirklich auf den Zettel, unterschreibt nur und setzt sich wieder in die Ecke. Dabei sehe ich, dass er die Rollläden schon längst heruntergelassen hat, schaue auf die Uhr und erschrecke. Petra! Die wird sich freuen!
Max nickt. Er ist Single und muss sich kaum an Zeiten halten. Aber ich will doch Kuno noch sehen. Klar, so ein Kind muss seinen Vater erleben… nicht nur von ihm hören! Und darum… sitze ich wenig später im Wagen, fahre auf die Rennstrecke und rufe von unterwegs schnell zuhause an. Ehe da erst böses Blut…
"Na, das wird aber Zeit! Keller jedenfalls war schneller und meinte, dass Du Dich wieder nicht trennen kannst!"
Keller… immer wieder Keller! Wenn ich an die Tage damals am Hohburgtunnel denke, da hatte ich richtig Angst um unsere Beziehung, die zu Petra, weil er sich in alles einmischen musste. Selbst als wir endlich mal reinen Tisch gemacht hatten… aber na ja… soll er. Petra zieht mich auch nur zu gern mit ihm auf!
Vor mir liegt Dresden. Und während ich, von Schönfeld kommend, am nahen Fernsehturm vorbei sause, klingelt wieder einmal mein Handy.
"Hauber hier. Ich bin jetzt da, suche schon fleißig. Frau Peschke ist so freundlich…"
Ich höre im Hintergrund das Gegacker… ja, die Judith… und Hauber? Immer alte Schule. Das ist eben Frau… Hoppla, wieso Frau? War das nicht immer Fräulein Peschke für ihn? Na, egal!
"…wir haben nicht viel. Aber eine Sache, die würde ich Ihnen gern zeigen. Können Sie vielleicht kurz…?"
Nein, kann ich nicht. Aber er soll es mir per eMail schicken und mich dann noch einmal anrufen. Petra ist sicher nicht begeistert, aber ich bin wenigstens zuhause!
Stopp… Nein, ich fahre weiter. Aber mir fällt etwas ein. Schnell die Nummer von Max wählen. Vielleicht ist er noch…?
"Hallo Frank? Ja, ich fahre gerade vom Mühlenparkplatz!"
Umdrehen und rein zu Wolf, Herr Senner. Wieso weiß der denn plötzlich, dass Jens einen schweren Rucksack dabei hatte? Ich denke, der ahnte nicht einmal, dass der Junge mit dem Moped… und in der Nacht… und bei dem Unwetter…
"Mann, klar! Dass wir das übersehen konnten! Aber warte, den greife ich mir! Ich rufe Dich an, wenn er was dazu gesagt hat!"
Gut, das reicht. Kann er sich jetzt nicht davon machen.
Max scheint gerade aufzulegen, da höre ich noch einen Knall. War das im Wagen oder in der Freisprecheinrichtung? Das Gespräch ist weg. Ich drücke die Wahlwiederholung. Es ruft. Na, zum Glück ruft es. Wenn da…
"Senner?!"
Stein vom Herzen! Ich habe gleich vor lauter Schreck angehalten, stehe auf einer recht engen Straße und um mich ist es dunkel. Na, vielleicht finde ich eine bessere Stelle… Langsam rolle ich an.
"Was war das für ein Knall?"
Max ist beim Hineingehen.
"Weiß ich nicht. Hörte sich an wie ein Schuss. Aber…"
Er schluckt.
"Verdammt… das ist doch…"
Was ist da?
"Wolf… der hat sich erschossen! Entschuldige, Frank, ich rufe die Kollegen. Das ist zu verrückt. Gerade haben wir doch noch mit ihm… nein, das kann ich nicht…"
Muss verheerend aussehen, wenn Max dermaßen austickt. Der ist schon einiges gewöhnt… und mehr, wie man so schön sagt!
"Lebt er noch?"
Max macht nur "äh, äh"
Klar, wenn er sich…
"Kopfschuss. Muss sofort… also wenn Du das hier…"
Ich will es gar nicht wissen und kann es mir doch recht gut vorstellen.
Max leitet alles Notwendige ein. Natürlich tut er das. Und ich? Ich lege auf. Nein, das kann wirklich nicht sein! Ein Glück, das ich jetzt eine kleine Straßenbucht gefunden habe. Und genau da braust auch schon ein LKW an mir vorbei. Na, das wäre an der anderen Stelle wirklich eng geworden! Gut, nicht schlimm.
Ich lehne mich zurück. Nein, dieser Job ist nichts für Schwache. Man muss immer wieder neue Wendungen wegstecken. Und erst recht seit Kuno auf der Welt ist, da sehe ich viele Dinge ein wenig anders.
Gerade noch gesprochen… wenn ich an die ewig harten Kommissare im Fernsehen denke. Petra zeigt mir manchmal einen Ausschnitt. Ich schaue mir so was schon lange nicht mehr an. Auch wenn die Ergebnisse oft mit denen im wirklichen Leben übereinstimmen… so perfekt und immer auf den Punkt gebracht läuft wirklich keine einzige Ermittlung ab. Wie auch?
Wolf… Schuldeingeständnis oder Kurzschlusshandlung?
Ich wähle Wehners Nummer, weiß ja, dass er vorhin auch abbrauste, sicher schon in Dresden eintraf.
"Bei Wehner…"
Eine Frauenstimme. Der hat ein Eisen im Feuer? Geht mich nichts an! Ich stelle mich kurz vor und schon habe ich ihn am ‚Kommunikationsknochen'.
"Was ist los, Zech? Erst machen Sie sich den ganzen Tag über rar und dann können Sie mich nicht mal am Abend…"
Soll er wettern! Freisprecheinrichtungen sind eine schöne Sache. Man kann sich entspannt nach hinten lehnen und abwarten, wann man endlich auch ein Wort sagen darf.
"Sind Sie noch dran, Zech?"
Oh, zu lange gewartet!
Ich setze ihn ins Bild. Ruhe auf der anderen Seite. Sicher muss er auch erst einmal schlucken. Gut, er steckt es wohl weg.
"War das ein Verdächtiger für Sie?"
Nein, kann ich nicht so sagen. Aber komisch ist die Sache schon.
"Wir hatten da eine kleine Ungereimtheit. Aber das wäre sicher alles schnell geklärt worden. Darum war Senner noch dort. Und dann der Schuss… Ich jedenfalls glaube an eine Kurzschlussreaktion. Zumal wir Fremdverschulden ausschließen können!"
Wehner schluckt.
"Natürlich. Wenn Senner vor'm Haus stand… er wird es ja wohl nicht gewesen sein!"
Sollte das ein Witz oder nur eine Feststellung sein? Ich kann es nicht sagen, wundere mich aber ein wenig über meine eigene Ruhe, wenn ich so etwas höre.
"Gut, Zech, dann werden wir morgen eine Menge zu tun haben. Wie gehen Sie vor?"
Ich werde heute schon… mit Petra. Die gute alte Tradition. Auch wenn es mir nicht gefällt, ihr immer so blutige Gutenachtgeschichten erzählen zu müssen. Aber anders wäre es nicht möglich. Und morgen will ich ja mit Hauber… und Knauber muss ich auch noch… Ja, zu dem fahre ich jetzt gleich. Sorry, Petra, das muss aber sein! Wehner scheint zufrieden und legt auf.
Ich mache den Audi flott und ab geht es in den Ort. Gleich zum Uniklinikum. Da wirkt Knauber meist. Und bei den Massen von Exponaten… ja, da wird er sein!
Ich fahre übers Blaue Wunder. Die warme Luft nach den letzten Regentagen hat eine Menge Leute in den Schillergarten gelockt. Feuerschalen und ein quirliges Treiben da unten. Müsste man auch mal wieder Zeit für haben! Aber leider… eben nicht heute.
Schon bin ich an der Schranke zur Uniklinik. Meine Marke wirkt Wunder. Ich brauche keine Einfahrtmünze zu ziehen und parke wenig später da, wo oft die Leichenwagen anhalten, wenn man jemanden zur Obduktion bringt.
Klar, da steht auch Knaubers Volvo. Er ist hier. Ich täusche mich selten in ihm. Und natürlich auch nicht in seinem Team. Denn neben ihm wirken schon vier Mann… sorry, drei, und eine Frau… die ihm die ganzen Knochen richten. Nicht seine eigenen, sondern die aus den kleinen Zinksärgen, die fast bis zur Decke aufgestapelt sind. Und dort drüben liegt Jens Wolf. Unter der Decke.
"Ah, Zech, hätte mir denken können, dass Sie's noch mal versuchen. Sind ja auch so ein Nimmersatt bei den vielen Fällen. Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu?"
Hmm… noch nicht wieder angerufen. Mist. Aber jetzt erst der Zwischenbericht zu Jens Wolf!
"Oh, ja… der wurde also nicht… der ist scheinbar gestürzt. Aber ganz genau kann ich das jetzt nicht sagen. Wir haben noch ein paar Tests vor. Der Genickbruch ist glatt und scheinbar ohne weitere Einwirkung. Alle anderen Abschürfungen scheinen auch von dem Sturz zu sein. Nur bleibt für mich unklar, wie er gestürzt ist. Gerade da. Die Straße ging ja nach oben. Und das Wasser… das kann dort höchstens knietief gestanden haben. Da stürzt man eigentlich nicht. Es sei denn, wenn er kein Licht am Moped hatte. Das müssen Sie klären!"
Ja, das wäre… Max hat es sicher… halt… das hat Friedrich gemacht. Und den klingle ich jetzt, kurz vor Neun, auch noch einmal an.
"Haben wir hier. Noch nicht viel gefunden. Zumindest sprang die Maschine sofort an. Kann an allem Möglichen liegen. Der Vergaser hat ihm wohl keinen Streich gespielt. War kein Wasser drin… zumindest nicht beim Unfall. Danach lief was nach!"
Unfall… wie hat er das rausbekommen?
"Ablagerungen. Man sieht halt, was dann noch rein lief. Hat sich ja nichts mit dem Sprit vermischt. Klare Sache. Ist eben noch ein gutes altes Moped. Hatte auch mal so eines. Besser gepflegt. Ist aber nicht so alt geworden, wie diese Schwalbe!"
Ich denke an den Star. Ja, damals… meine Heidefahrt. Na, das hatten wir schon! Ich muss grinsen und Knauber bezieht es natürlich auf sich. Er steht vor mir in einer mehr als nur alten Schürze und hat auch noch diese blutigen Handschuhe an.
Ich beruhige ihn. Nein, da habe ich sicher nichts an ihm zu mäkeln. Aber gut…
"Schon ein paar erste Daten zu den Gebeinen?"
Sonst ganz in seinem Element, grummelt er, wirkt ein wenig genervt.
"Nein, Zech, nein! Ich muss erst aus jedem Knochen eine Probe nehmen, die dann alle ordentlich einlegen und auch noch mit Strahlen bewerfen… wenn Sie das verstehen. Und wenn ich dann vielleicht ein paar brauchbare Ergebnisse bekomme, dann können wir in einem Aufwasch einige Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, wann die Leute gelebt haben und gestorben sind… auf zehn bis dreißig Jahre genau zumindest. Ich kann nichts garantieren. Um so älter, um so ungenauer… eben… und trotzdem…"
Er machte ein wissendes Gesicht.
"Vielleicht bekomme ich ein paar von diesen Puzzles zusammen. Nämlich dann, wenn wir wirklich das Glück haben sollten, noch ein wenig DNS zu bestimmen. Gelingt das, haben wir auch Stämme… und könnten sogar Nachfahren bestimmen. Oder eben Vorfahren. Aber das nur am Rande. Erst einmal bleibt eine ganze Menge Arbeit. Und, Zech, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich nicht laufend nerven. Ich melde mich. Das verspreche ich. Umgehend natürlich. Und Sie bekommen die Meldung als Erster!"
Stress. Er will sich nicht festnageln lassen. Auch wenn es schon eine ganze Menge an interessanten Techniken und Methoden gibt… unfehlbar ist davon bis heute noch lange nicht alles. Und manchmal geht eben auch gar nichts.
"Ja, gerade bei Knochen, die fast in der Kieselsäure des Bachbettes versteinert sind!"
Pha… Bach… wenn das Sell hört… für den ist die Polenz ein Fluss. Knauber achtet nie auf solch scheinbar kleine Dinge. Muss er auch nicht. Ein Wunder, dass er mit seiner Einstellung überhaupt bisher im Leben klarkam.
"Also, mehr habe ich jetzt nicht!"
Bleibt es denn wenigstens bei seiner Vermutung zum groben Alter der Knochen?
"Eine erste Beschau… ach Zech, ich weiß doch, was Sie wollen. Jetzt soll ich mich sicher gleich über die Sachen machen und Ihnen zumindest einen vorläufigen Abschlussbericht geben. Aber das geht nicht. Der Junge geht vor. Und dann nehme ich mir das scheinbar jüngste Skelett her. Und das, das kann ich Ihnen schon sagen, das ist keine fünfzehn Jahre alt. Also… reicht's?"
Eigentlich nicht. Aber wenn Knauber nicht mehr sagen will, dann muss ich es hinnehmen. Und Petra anrufen. Wenigstens die paar Minuten, bis ich zuhause bin, sollte sie schon wissen, dass ich komme. Denn es geht auf halb Zehn. Keine gute Zeit, um einen Streit in den eigenen vier Wänden vom Zaume zu brechen.
"Scher Dich heim. Ich hasse das, wenn Du Dich in einen Fall verbeißt. Hauber ruft auch schon laufend an und ich sehne mich nach dem Tag, an dem ich wieder in der Bibliothek bin!"
Ha, das nun wieder glaube ich ihr nicht. Klar, sie will arbeiten. Aber Kuno… den gibt sie jetzt schon kaum ein paar Minuten her. Wie sollte das dann bei der Arbeit gehen?
"Ich weiß genau, was Du denkst, Frank. Aber warte nur ab. Wir richten einfach eine Kinderstube in der Bibliothek ein und dann…"
Ja, ja, ja… ich will es nicht hören.
"Komm heim. Ich habe noch was Leckeres im Ofen!"
Na, kann man da widerstehen?
Kaum sitze ich im Wagen, habe ich noch einmal Friedrich dran.
"Wir nehmen gerade das Moped auseinander. Zumindest ein wenig. Ich will auch heim. Aber weißt Du, die haben da irgendwas manipuliert!"
Manipuliert… an einem alten Moped? Wer? Ähm… Was denn?
"Ja, das konnte nur soviel Sprit bekommen, dass man gerade Strecken locker entlang kam. Sogar schnell. Aber sobald es ein wenig den Berg hinauf… nun, ich denke da an diese Stelle, wo wir das Ding gefunden haben. Ein paar clevere Köpfe hätten locker berechnen können, wo der Junge strandet. Egal wann. Wo, das stand eigentlich fest. Drei Straßen… drei Stellen. Alle gingen irgendwann nach oben. Und damit war der Wirkungskreis des Fahrzeuges mehr als nur genau festgelegt. Interessant, nicht?"
Friedrich… natürlich ist das interessant. Und mir läuft es kalt den Rücken herunter. Haben die… wer auch immer die waren… doch etwas mit dem Tod zu tun?
"Das kann nur Knauber sagen. Aber wenn Du ihm den Tipp gibst, dann kann er vielleicht gezielter suchen. Zumindest wird er von seiner Theorie abrücken müssen, dass es ein Unfall war. Vielleicht beflügelt ihn das gleich?"
Gut, noch einmal rein. Ich komme heute nie…
"Was? Kein Zufall? Dann… dann… dann kann ich verstehen, was das da ist!"
Er zeigte auf die Leiche. Inzwischen schon zusammengenäht. Sehen nicht schön aus, die Schnitte quer über den Leib. Aber an der Seite, gleich unterhalb der Schulter…
"Genau da!"
Knauber zeigt auf eine gerötete Stelle.
"Ich habe ja erst an eine Reizung gedacht. Das ist nun auch nicht gerade die Stelle, wo man jemanden festhält. Aber nun… wenn sich jemand ein wenig auskennt… bei den vielen Fernsehserien kaum zu vermeiden… da kann er genau einen Griff ansetzen, der nicht nur tödlich, sondern dazu auch noch schnell ist."
Schnell… Der Junge war sicher nicht gerade ein Spitzensportler. Aber wenn man ums Überleben kämpft…
"Nein, kein Kampf. Von hinten eher. Vielleicht… Sie sagten, dass das Moped vielleicht nicht mehr wollte?"
Ja, möglich! Na, ich mache noch einmal Druck, brauche was in der Hand.
"Gut. Schreiben Sie alles auf. Wenn der erste Bericht fertig ist, dann gleich zu mir. Ich muss einen Ansatz finden!"
Knauber zog die Brauen hoch, kullert mit den Augen.
"Ja doch!"
Und schon bin ich wieder draußen. Ob ich das Handy einfach abschalte? Vielleicht hat es auch Erbarmen mit mir? Hoffentlich! Und wütend starte ich den Motor.
Zuhause stehen einige Wagen direkt vor der Tür. Den kenne ich doch… der A6 von Keller… und da… der Audi von Wehner. Na prima. Nun habe ich auch noch…
"Hallo Herr Zech! Bin ich noch nicht zu spät? Ein Glück!"
Hmm… jetzt klopft mir noch Hauber auf die Schulter. Wen hat er denn am Arm?
"Nun, wenn er schon zu meiner Freundin und Chefin geht, dann will ich dabei sein!"
Judith. Gut, der Abend ist im Eimer.
Oben auf dem letzten Treppenabsatz höre ich laute Stimmen.
"Nein, der Kleine schläft. Treffen Sie sich, wo Sie wollen. Nicht hier!"
Petra! Sie scheint gerade die ganze Kriminalelite der Stadt rauszuwerfen.
Ich gehe mit einem Schulterzucken vorbei, werfe die Tür zu und lasse vier verdutzte Leute davor stehen.
"Pass mal auf, Petra…", nehme ich ihr gleich den Wind aus den Segeln, "…eigentlich wusste ich von dem Überfall nichts. Vielleicht gar nicht schlecht. Schläft Kuno?"
Petra nickt finster. Ich gehe in sein Zimmer, drücke ihm noch einen Kuss auf die Stirn, ziehe die Decke zurecht und schnappe mir das zweite Babyfon, hake Petra unter und greife nach dem Schlüssel. Sie ist viel zu perplex um sich zu wehren. Und schon stehen wir vor der Tür.
"So. Gehen wir zum Griechen. Bis dahin reicht das Teil locker!"
Ist ja nur im Nachbarhaus… aber das sage ich nicht. Petra ist natürlich immer noch sauer und zeigt es allen. Außerdem meint sie auf dem Weg nach unten, dass sie nicht für so etwas angezogen ist.
"Egal. Wir wollen reden, nicht präsentieren!"
Sie sieht mir in die Augen. Ich kann Vorwürfe erkennen. Mehr als nur einen. Und doch ist da auch ein Lächeln. Ganz tief drinnen… kaum zu erkennen. Na, vielleicht wünsche ich mir auch nur, dass es da ist.
Wir stehen vor dem Haus. Keller reicht Wehner eine Karte, ähnlich wie die, die ich schon auf seinem Armaturenbrett gesehen habe. Der lacht, legt sie in seinen Wagen und schon haben wir einen neuen Korruptionsfall… Parkgenehmigungen für alle… vom Minister über den Staatsanwalt bis… nein, Hauber und ich parken ordentlich. Zumal da auch noch Platz gewesen wäre. Tut nichts zur Sache.
Dann sitzen wir beim Griechen. Warum da? Ich sagte es schon… das Babyfon reicht nur bis hierher. Und das Café daneben hat schon zu. Leider.
"So, nun erzählen Sie mal, Zech!"
Was denn? Die wissen doch schon längst alles! Aber na ja. Petra und Judith, dazu auch Hauber, die bekommen noch eine kurze Einführung.
"Gut, interessant. Aber was können wir jetzt tun?"
Wehner sieht genervt aus. Keller schnäuzt sich.
"Wir brauchen eine Lösung. Wir bringen alles durcheinander. Die Gemeinde Hohnstein ist wichtig. Guter Wahlkreis. Und diese Knochen… das alte Lager, die Braunfärbung der ganzen Gegend und so weiter. Jetzt auch noch dieser Selbstmord und die Ideen, die alte Rennstrecke wieder in Schuss zu bringen… da muss man doch etwas tun, damit es keine negativen Schlagzeilen gibt, oder?"
Na klar… Keller und die Politik! Hätte mir denken können, warum er so gut drauf ist.
"Was, um alles in der Welt, hat's denn nun mit diesem Teufelszeug auf sich? Gibt's schon eine Erklärung?"
Natürlich nicht. Nur, dass es eine Brücke geben soll. Das war ein Gestammel von diesem Sell. Aber nun ja… das mit dem Lager hätte besser gepasst. Wäre zumindest nachvollziehbar. Nur Knauber…
"Ach was, wenn Knauber nichts Gescheites findet, dann müssen wir ihm ein wenig auf die Sprünge helfen!"
Manipulation. Keller… lass es! Er sieht meinen Blick und ist sofort still.
"Die Zeitung…"
Wehner bringt sich ein.
"…die kann wirklich ein Problem werden. Soviel ich weiß, haben die schon Informationen bekommen. Und die Boulevardpresse morgen ist sicher voll damit!"
Keller fällt fast aus allen Wolken.
"Wer hat denn das…?"
Wehners Blick sagt alles. Und Keller würde ihn sicher gern vernichten. Aber das bringt uns nicht weiter.
"Hauber, haben Sie schon was herausgefunden?"
Der nickt und meint mehr mechanisch, "Da geht es wohl um einen alten Schwur. Verrückte Sache. Habe ich in einem Nebensatz gelesen. Vor Jahren. Kam ganz nebenbei drauf."
Nebensatz… Ich denke an Max und die beiden Sagenbücher. Ob die schon bei ihm…? Nein, sind sie noch nicht. Kommt noch.
"Warum stellt sich denn jemand zwei gleiche Bücher ins Regal?"
Petra sieht Judith und mich fragend an, als ich davon erzähle. Dann huscht ein Hauch von Verständnis über ihr Gesicht.
"Ja, unterschiedliche Jahrgänge. Das kann ein Vermögen wert sein!"
Vermögen… nein, die Wolfs hatten kein Vermögen. Und sie wurden sicher auch nicht wegen der Bücher… nein, da gab es doch…
"Hab ich nichts von gehört!"
Judith antwortet ein wenig zu schnell.
"Pass auf, Judith… es kann ja sein, dass Dir das unangenehm ist. Aber irgendwoher muss dieser junge Wolf die Kopien von diesen alten Unterlagen über einen Schwur, eine Brücke und ein Knochenfeld haben. Zumal er auch noch, zumindest laut Sell, seinem Freund sagte, dass er alles aus Eurer Bibliothek hat."
Judith wird blass. Dachte ich mir. Wobei ich annehme, dass sie selbst damit sicher nicht viel zu tun hat.
"Ältere Angestellte… sag mal, Judith, Deine Mutter hat doch bis vor einem Jahr noch bei uns… kann es vielleicht sein, dass…?"
Sie beendet keinen Satz. Nur Judith rutscht immer näher an ihr gerade dampfend auf den Tisch gekommenes Gyros heran. Bald liegt sie sicher drin!
"Ich weiß nicht… ich kann mir nicht… sie hat doch nicht…"
Gestammel. Und doch kann sie vielleicht nichts dafür.
"Deine Mutter hat die Kopien gemacht und diesem Wolf gegeben, nicht wahr?"
Judith weiß es wirklich nicht. Jetzt ist sie so weit, dass sie alles zugeben würde. Nur das… das kann sie einfach nicht sagen. Und ich glaube ihr. Nur Keller, der drückt noch ein wenig in der Wunde herum.
"Das kann doch wohl nicht… braucht Ihr alle mal eine richtige Schulung, wie man es nicht machen sollte? Nein, habt Ihr ja schon!"
Aber endlich beruhigt er sich.
"Ruf Deine Mutter an. Frag sie, wie das damals ging und was sie dafür bekam. Vielleicht hat sie es auch nur aus Spaß an der Freude gemacht. Aber eigentlich schätze ich sie immer noch als eine sehr pflichtbewusste Frau ein!"
Ich sehe genau, wie Judith bei jedem von Petras Worten zusammenzuckt. Und ich kann sie verstehen. Sie muss jetzt für eine Sache Rede und Antwort stehen, die sie nicht selbst verzapft hat. Und sie weiß, dass Petra verzeihen kann. Wie im Hohburgfall, als ihr einige Akten abhandenkamen… Ja, was nun?
"Lassen wir das Essen nicht kalt werden. Jamas!"
Keller hob die Ouzos auf unser Wohl. Er trinkt gleich den von Judith mit, denn die schob ihn schon vorhin von sich. Jetzt jedoch könnte sie ihn wohl gut gebrauchen. Ich sehe das sehr wohl und winke dem Kellner, der uns, Petra und mich, schon recht gut kennt… Babyfon… Reichweite… klar?
"Also Ihr habt da wirklich ein halbes Tal voller Schädel gefunden, ja? Das ist kaum zu glauben… heute… da denkt man doch, alles wurde schon Hunderte Male umgewühlt. Und dann das!"
Petra versucht den Abend zur retten, während Judith sich in eine Ecke verzieht und handyfoniert, um ihre Mutter zu erreichen. Endlich hat sie wohl Glück. Und obwohl Petra gerade zum nächsten Aufmuntern ansetzen will, kommt sie zurück und drückt mir das Handy in die Hand.
"Hier, sie will sich entschuldigen und auch noch ein paar Worte sagen!"
"Hallo? Hallo? Sind Sie Herr Zech? Ja, tut mir unendlich leid… ich wusste nicht…"
Ich unterbreche sie, bitte, das Gespräch laut stellen zu dürfen und stelle nach ihrer Zustimmung die Anwesenden vor.
"Ach, Petra ist auch da… das ist mir so peinlich. Der kam damals, dieser junge Mann, und wollte sich über die Entstehungsgeschichte von so einer Brücke erkundigen…"
Immer wieder diese Brücke.
"Er ließ nicht locker. Ich hatte aber nichts. Und alle von Dr. Hauber schon katalogisierten Schriften waren eine Fehlanzeige."
Hauber grinst.
"Na, vielleicht…", aber das Lachen vergeht ihm gleich wieder.
"Eines Tages… ich wunderte mich schon, weil er immer kam, wenn ich allein Dienst hatte, da legte er mir einen Zettel unter die Nase. Eine konkrete Buchbezeichnung. Aus dem 17. Jahrhundert. Ich habe noch nie jemanden so gezielt eine Sache verfolgen sehen. Und ich dachte ehrlich auch, dass der sicher nicht alle Tassen… nun, zumindest war es ein Titel. Und er meinte felsenfest, dass wir das Buch haben müssten. Niemand sonst könnte es besitzen. Es wäre aus einem alten Nachlass. Aus der Nazizeit… eben da in unseren Bestand gekommen."
Warum denke ich bei diesen Worten gleich an Juden? Nur von denen hat man damals so eindeutig wertvolle Schriften und anderes konfisziert. Verdammt… geht es wirklich in diese Richtung?
"Ich wollte nichts damit zu tun haben. Aber er war einfach nett. Und so hab' ich einen Fehler gemacht… einen großen. Petra, bitte verzeih mir!"
Mein Weibchen kocht schon die ganze Zeit. Nein, das Essen kochten andere. Aber seit sie das von Judiths Mutter weiß…
"Berta, ich bin sauer. Lass mich bloß in Ruhe, ja!"
Das hob auch nicht gerade deren Stimmung. Sie seufzt.
"Na, irgendwann muss ich es doch erzählen. Hatte ich fast vergessen. Aber wenn jetzt… was ist denn eigentlich passiert? Hat der junge Mann was angestellt?"
Ich schaue Judith und Petra scharf an. Nichts sagen! Ist Ermittlungsarbeit. Mehr nicht.
"Ja, Mutti, das können wir noch nicht genau… also, was war denn dann passiert?"
Gerettet… das scheint Frau Peschke zu beruhigen.
"Also, ich nahm mir abends ein wenig Zeit. Ein paar Tage brauchte ich auch. Und Dr. Hauber hatte in Leipzig zu tun. Passte also alles Perfekt. Schließlich fand ich das Buch. War ein Wälzer. Mit allen möglichen Dingen. Aber selbst da hatte der junge Mann einige Vorarbeit geleistet. Er wusste zwar nicht, um welche Seiten es sich handeln musste. Aber das Kapitel. Um die einhundert Seiten. Gute, noch richtig mit der Hand gesetzte und mit viel Aufwand gedruckte Seiten. Das suchte ich raus. Und wirklich, da war alles drin. Altdeutsch geschrieben. Sogar noch ein zweites Buch, handschriftlich, aber im gleichen Format. Das wollte er gern vollständig kopiert haben. Vom Druckwerk nur das eine Kapitel. Und ich habe es getan. Hab immer wieder gedacht, dass es doch schade ist, wenn die ganzen Dinger verstauben. Zumal ich nicht annahm, dass das schlimm ist. Das Original blieb ja da. Ist heute noch dort. Zumindest wenn es nicht inzwischen… nun ja. Aber dann kam der Mann nicht wieder. Ich machte mir schon Sorgen, hatte die Seiten doch in einem dicken Umschlag in meinem Spind. Einmal hättest Du mich fast damit erwischt, Judith, als ich umziehen musste. Damals, als die neuen Schränke kamen, weißt Du noch?"
Judith nickt ganz langsam.
"Mein Gott, so lange ist das schon her? Schäm Dich, Mutter!"
Und die schämt sich wirklich.
"Ja, Du hast ja recht. Aber es ist nun einmal geschehen. Was soll ich denn sagen?"
Für mich ist das nur Geplänkel. Wir wissen nun, dass Sell zumindest schon einmal in diesem Punkt die Wahrheit sagte und eben auch, wie der junge Wolf an die verschwundenen Kopien kam. Das allein ist schon einiges wert. Nur kein kaltes Essen. Mein Souflaki dampfte nicht mehr… und Hunger macht böse. Darum beginne ich, jetzt parallel zum Gespräch zu essen. Zumal die Damen ja das Reden übernommen zu haben scheinen. Das kann ruhig so bleiben! Und ich lasse es mir endlich schmecken.
"Ja, dann kam er doch noch. Wieder schien er den Moment genau abgepasst zu haben. Denn Judith war gerade eine halbe Stunde weg und Petra hatte frei. Ich glaube, Du warst irgendwie mit Herrn Zech unterwegs. Aber nicht privat. Da gab es eine ganze Menge Stress wegen anderen Dokumenten, die einfach verschwunden waren… auch Judith hatte da wohl… na ja… ging mich nichts an. Mein Gewissen jedoch war immer noch absolut sauber. Ich hatte nichts entwendet, nur einen Dienstweg ein wenig verändert… verkürzt eher. Und auch wenn Du mich schlägst…"
Trocken und würzig… Telefonat und Essen. Ich brauche ein Bier. Irgendwie schlägt mir das alles auf den Magen. Ein Gerstensaft kann manchmal Wunder wirken. Meint zumindest mein Arzt. Auch wenn ich die Therapie nicht übertreiben soll, wie er sagt.
"Zumindest übergab ich ihm die Kopien und er bedankte sich brav dafür. Nur den Kaffee, den er mir mitgebracht hatte, den wollte ich nicht allein trinken. Darum habe ich ihn in unsere kleine Küche gestellt. Schmeckte doch, oder?"
Sie scheint sich immer noch nicht einer wirklichen Schuld bewusst zu sein. Hauber schlägt derweil die Hände über dem Kopf zusammen.
"Wenn der Mann jetzt wegen der Dokumente umgebracht wurde, dann hat sie einen Mord am Hals. Zumindest Mittäterschaft!"
Na, der schaut zu viele Krimis. Eindeutig von der falschen Art! Ich winke ab.
Aber… Frau Peschke hat mitgehört.
"Was, der Junge ist tot? Das kann doch nicht… der arme Junge… das hat doch sicher nichts mit den Kopien… sagen Sie doch, dass das nichts damit zu tun hat, ja?!"
Oh weh, das ist zu viel! Petra und Judith versuchen sie zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg. Als dann alles in Tränen auf beiden Seiten ausufert, muss ich's beenden.
"Kommen Sie doch bitte morgen früh, gleich gegen zehn, in die Bibliothek und zeigen uns die beiden Bände. Dann haben wir zumindest den gleichen Stand wie Jens Wolf!" Die alte Frau fasst sich und verspricht, pünktlich zu sein.
"Ob sie damit bis morgen klarkommt?"
Wehner macht sich nach dem Telefonat Sorgen. Aber Judith winkt ab.
"Die ist hart im Nehmen. Musste mich ja groß ziehen!"
Alle lachen, auch wenn uns eigentlich nicht so recht danach zumute ist. Verrückter Tag. Aber zumindest das Souflaki war gut. Wenn auch kalt. Und Petra lächelt nach einer Weile wieder ein wenig. Den Umständen entsprechend… könnte man sagen.
Wir vereinbaren, dass Hauber morgen alle bei Wolf mitgenommenen Bücher in die Hand bekommt, dass Frau Peschke ihm die kopierten Bände zeigt und dass er sich gleich an die Literatur heranmacht. Vielleicht, so hoffe ich, bekommen wir ein paar Anhaltspunkte, die nicht nur mit alten Flüchen, Tod und Teufeln zusammenhängen.
"Aber diese Brücke… die sollten Sie sich unbedingt anschauen, Zech. Ich war heute auf der Rückfahrt dort. Von oben muss man nicht einmal sehr lange laufen. Und man hat einen schönen Blick nach Hohnstein hinüber. Was das Ding mit Teufel und Schädeln zu tun haben soll… das weiß ich immer noch nicht. Aber zumindest ist das Ding stabil. Stabiler als es diese Wolfs wohl waren!"
Keller… der kann seinen Sarkasmus auch nicht lassen. Wehner dreht die Augen genervt gen Himmel… eher zum Ventilator an der mit blauen Wolken bemalten Decke unseres Lieblingsgriechen. Und Hauber nickt vor sich hin, während Judith sich an ihn drückt. Vielleicht auch darum, weil sie dieser ganzen Sache mit ihrer Mutter entgehen will. Das war vielleicht ein Tag… Und wenn ich daran denke, dass Knauber sicher immer noch den Kittel anhat, in Jens Wolf, eventuell schon in dessen Vater herumfingert… und die ganzen Knochen auf den anderen Tischen vor sich liegen sieht… Im wahrsten Sinne ein Knochenjob!
Gegen Mitternacht, und noch ein paar Ouzo später, brechen wir ab. Irgendwie kam sich Wehner anfangs ein wenig fehl am Platze vor… doch dann macht ihm diese außerdienstliche Unterhaltung Spaß. Ein witziger Typ, wenn man ihn besser kennt. Keller muss ihn natürlich laufend vorführen. Aber… er nimmt das nicht so ernst. Und er beweist endlich einmal, dass auch er vom Job abschalten kann. Nicht ein Wort mehr über den Fall oder den morgigen Tag. Schwänke aus der Jugend, alle möglichen Begebenheiten… und so weiter. Mehr nicht.
Ich bin froh, dass wir es nur zwei Hauseingänge weit nach Hause haben. Wehner jedenfalls kann nicht mehr fahren und ruft sich ein Taxi. Keller, der will erst nicht. Doch dann informiert er die Fahrbereitschaft und wird im eigenen Dienstwagen von einem dienstbaren Geist seines Ministeriums heimgefahren. Besser so. Zumal er den Unterschied zwischen Privat und Dienst noch auswendig beherrscht und gleich beim Einsteigen den entsprechenden Bogen ausfüllt. Guter Mann. Etwas nervig. Aber gut. Genau wie Hauber, der auf Judith gestützt von dannen zieht. Der wird morgen viel zu tun bekommen. Und ich freue mich, wieder einmal ein Lächeln auf Petras Gesicht zu sehen. Endlich. Und Kuno… der schläft selig und wartete sicher auf die nächste Windel, Mahlzeit oder ein spannendes Spiel mit Papa und Mama. Na, Gute Nacht!

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© by Stefan Jahnke und aavaa-Verlag Berlin

 

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