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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Zahltag

 

Prolog (Auszug)

...

Pechtler steht in der Tür, kann es nicht fassen.
Ich sitze im Bett, das Kopfende hochgestellt, und löffle meine Suppe. Ich allein löffle sie. Gut, Fleisch und andere feste Stoffe kann ich nicht kauen. Dazu fehlt… fehlt einfach die Kraft. Aber diese Kombination zwischen Schlucken und Atmen… die klappt. Hätte ich selbst nicht gedacht. Ich strahle Pechtler an, der sich dann nachdenklich umdreht und geht.
Peter erzählte mir, was der versucht hatte. Ich wäre jemand gewesen, dem man einfach nicht ansah, ob er wirklich Schmerzen hat oder nicht. Und da hat er angenommen, dass ich keinerlei Äußerungen mehr machen könne… nicht einmal mehr stöhnen. Na ja…
„Die Pumpe, das war seine einzige Antwort. Dein Körper wäre bereit, zu gehen. Er erklärte das so, wie Du mir das mit Uroma erzählt hast… na ja, wie sie blind wurde und nach und nach auch nicht mehr schluckte, erst die Sinne verlor und dann fast von innen vertrocknete, ohne, dass sie darunter leiden musste…“
Ich stelle mir das jetzt vor. Nein, das ist nicht gut. So darf man einen Menschen nicht eingehen lassen. Damals habe ich es nicht gewusst. Auch Mutter hatte keine Ahnung. Nur die Ärzte, diese Götter… na ja… die meinten, dass man sie natürlich nicht zum Trinken zwingen könnte. Sie wäre halt alt und daher wäre es nur richtig, dass sie nun geht. Von der Welt… Eine Welt…
Verachtung… ist das Verachtung für den Menschen durch den Menschen? Oh, ich habe noch ganz andere Verachtung kennenlernen müssen… an mir… um mich herum. Und niemand tat etwas gegen all dies. Wie auch? Nein, dazu war niemand berufen. Und ich musste es ertragen. Auch wenn man die äußeren Umstände mit einer besser formulierten Kündigung, einem gewissen Schweigebetrag oder auch einer nachträglichen Rehabilitation etwas veränderte, änderte sich nie etwas am Ergebnis… Ende… eben Rufmord und… na ja.
Verachtung… Für mich…
„Diese Pumpe pumpt Dich voller Schmerzmittel. Ein besonders starkes. Und Pechtler meinte gestern im Vertrauen zu mir, dass er noch nie einen Patienten gesehen hat, der bei dieser Dosis, die Du schon bekamst, noch zurückgeholt werden konnte. Daran, meint er, daran allein kann Bolte nicht schuld sein. Und wenn er sich das eingesteht, muss er den Hut ziehen. Nicht vor seinem Schweizer Kollegen, sondern vor Deinem Mut, Deinem Lebenswillen.“
Lebenswille…
Hatte ich den?
Ich habe ein Ziel. Das muss… ich muss es einfach!
Ich schaue Peter an. Er versteht mich, nickt. Dann holt er den Stoß mit den Karten heraus. Ich kann das nicht heute oder in nur ein paar Tagen erledigen. Wir müssen den Termin verschieben. Auch der Letzte muss noch drei Wochen bis zum Termin haben. Sonst bekommen wir zu viele Absagen. Das verträgt mein Budget nicht. Auch wenn ich mir sicher bin, dass sie trotzdem kommen… bei entsprechendem Angebot… Sie sollen nicht zu viel von mir erhalten… Die Einladung muss über zwei Drittel überzeugen. Dann reicht es und nichts ist in Gefahr!

Ich beginne. Der Stift liegt schwer in der Hand. Er ist nur aus Plastik, trotzdem… schwerer, als der Löffel bei der Suppe.
Zwanzig. Mehr schaffe ich nicht. Und auch dabei muss ich mehrmals absetzen. Ob ich das jeden Tag kann …?
Bolte sieht mir bei einigen letzten Unterschriften zu.
„Oh, des wird amal bessr. Warten's nur ab. Jedn Doag können's mehr. Bis zu de groaß Ziel!“
Verdammt… kennt er das? Hat Peter ihm davon erzählt? Das wäre… nun, das brächte vielleicht alles in Gefahr. Aber Bolte lacht nur.
„Na, so oa rund' Geburtstag muss doch a würdg…“
Ja, die Notlüge. Der hat doch tatsächlich die Notlüge geschluckt. Dabei… na ja, manche freuen sich schon auf ihre Feiern. Ich nie. Aber meine Mutter… wie gern wäre sie noch siebzig geworden. Sie wälzte selbst auf dem Sterbebett die Gelben Seiten, suchte eine geeignete Gaststätte, wollte mir das nicht allein überlassen. Dabei meinte sie, ich hätte zwar alle Vollmachten. Aber solange sie noch reden und denken kann, wird sie das auch alles allein erledigen.
Stärke? Starrsinn?
Nein, jetzt verstehe ich sie. Wie meine unleserlichen Unterschriften!

Tage vergehen. Bolte behält recht. Ich komme jeden Tag in eine Röhre, die er direkt aus seiner Klinik kommen ließ. Erst sträubte sich meine Krankenkasse, dann sprach sogar Pechtler dafür. Der hat nichts mehr gegen Bolte. Zumindest arbeiten sie wohl offiziell zusammen. Und meine Medikamente… Pechtler scheint sich nicht mehr aufzuregen.
„Vitamine… diese Konzentration ist zwar eine ganz verrückte… Niemand braucht diese Mengen an Vitamin B und auch noch diesen unheimlichen Überschuss an Vitamin E. Aber immerhin… Ihre Knochen haben sich dank Kalzium wieder gefestigt. Passen Sie nur auf, dass Sie nicht zu forsch auftreten… Die Konsistenz bleibt angespannt… Alles ist brüchig. Nur eben beweglich… und wieder geschmiert. Im Mittelalter, Herr Rummel, im Mittelalter hätte man meinen Kollegen verbrannt... und Sie gleich lebendig begraben!“
Ja, ja… im Mittelalter wäre er selbst als Zauberer und Hexenmeister in einem brennenden Teerfass ins Wasser geworfen worden. Er lacht, als ich das leise und mit einer mir fast unbekannten Stimme hervorquetsche.
Reden… das muss ich noch lernen. Das brauche ich für meinen großen Tag. Mein Sohn sucht schon einen Stimmbildner, der mich fitmachen soll. Geht das? Kann Bolte mir garantieren, dass sich der ganze Aufwand lohnt, dass ich dann auch wirklich…?
Na ja, ich muss es zumindest versuchen und sehe keinen Grund, mich nicht richtig anzustrengen. Immerhin habe ich doch…

Piepen um mich.
Meine Atmung hat ausgesetzt. Ich bekomme ganz schwer Luft.
Zum Glück war gerade die Schwester im Raum. Das Zimmer ist groß. Ein Eckzimmer. Und es soll das Schönste auf der ganzen Station sein. Viele andere Patienten schauen neidisch hinein, wenn sie mal einen Spaziergang über den langen Krankenhausgang machen und meine Tür gerade offensteht.
Nein, denen bin ich keinen Gefallen schuldig. Ich muss nichts tun, damit einer von denen mein Zimmer bekommt. Ich fühle mich wohl.
Mir gegenüber ist ein kleines Sofa. Ich brauche es nur zu sagen und Peter oder Sonja bleiben über Nacht. Sie haben sich so abgesprochen. Und jetzt… jetzt hängt alles an einem sehr morschen Faden. Verdammt aber auch!
Bolte ist außer sich. Er beschuldigt Pechtler, mir etwas gegen seinen Willen und seine Vorgaben gegeben zu haben. Pechtler tat das sicher nicht. Der wehrt sich, denn es geht um seinen Ruf.

Heute war der Rektor da… der wollte das alles nicht glauben.
Vor mir, der ich wohl halb weggetreten daliege, nahm er sich seinen Kollegen und angestellten Chefarzt vor, schimpfte ihn einen Idioten, und dass man vieles tun kann, doch aber nicht ohne Erlaubnis einen Kollegen aus dem Ausland einsetzen…
Ich schlucke. Ja, das geht schon wieder. Vielleicht war es nur ein kleiner Rückschlag? Noch während sie sich streiten und Bolte draußen vor dem Zimmer auf und ab geht, drehe ich mich zur Seite. Der Schlauch im Mund behindert mich. Ich ertrage es, denn mein Rücken ist verspannt, ich mag nicht ewig so liegen. Und die verdammten Kabel… die kann ich jetzt auch nicht brauchen. Sicher nicht! Sie bemerken es gar nicht, stehen da, reden aufeinander ein, lassen meine Frau nicht zu mir, da sie etwas zu klären hätten.
„Schicken Sie diesen Scharlatan nach Hause. Heute noch!“
Der Rektor mischt sich in die Behandlung ein.
Ich weiß, wovon er redet… von Professor Bolte. Dabei hat er nicht einmal richtig zugehört, als Pechtler einen Stab für ihn brach, alle kleinen Erfolge nannte und noch auf die Zusammenhänge eingehen wollte, die er nun endlich zu verstehen meint.
„Nennen Sie das Erfolg?“
Der Mann mit weißem Rauschebart zeigt auf mich.
Noch vor Wochen hätte ich ihn nicht sehen können, da ich auf dem Rücken lag und mich nicht bewegen konnte. Nun jedoch schaue ich ihn an. Er schaut zurück, bemerkt nichts und redet weiter.
„Kommen Sie, Ihr Patient beobachtet uns. Ich weiß nicht…“
Pechtler sieht sich um, schaut mich an, stutzt…
„Sehen Sie… nein, das ist doch… sehen Sie nur!“
Er ist außer sich und der Rektor versteht es nicht.
„Was denn? Der hat uns vielleicht zugehört. Obwohl ich nicht glaube, dass er das kann!“
Pechtler schüttelt den Kopf.
„Bei allem nötigen Respekt… aber wissen Sie noch, wie Herr Rummel lag, als wir uns hier trafen?“
Der ehrenwerte Chef der ganzen Klinik sieht seinen Professor an, als wäre dieser ein Wahnsinniger.
„Was hat das denn nun…?
Jetzt beginnt es wohl auch in ihm zu arbeiten.
„Sie meinen, er hat sich gedreht?“
Ja doch… habe ich. Und das ist kein Wunder, sondern eine gängige Sache, wenn ich an die wenigen Tage denke, an denen mir das alles noch ganz anders gelang. Endlich scheint der Mann zu begreifen, was er eben miterleben durfte.
„Das war ein Rückschlag. Jedoch der dauerte nur Stunden… Gut, zwei Tage. Das ist doch nichts im Vergleich zu den vielen Tagen, Wochen, gar Monaten, die der Patient erst ohne jede Regung dalag. Begreifen Sie das endlich?“
Oh, als Arbeitgeber muss man sich nicht alles gefallen lassen. Jetzt jedoch hat der Rektor keine Chance. Er wurde Zeuge einer Besserung, die er nach dem ihm sicher vorliegenden Bericht vom Hergang und der Wunderheilung zwischendurch, dann dem Rückschlag, als mehr als nur unwahrscheinlich einstufen musste.
„Hmm… nun ja… beobachten!“
Er dreht sich um, geht.
Bolte kommt mit Sonja ins Zimmer. Alle drei stehen um mein Bett, scheinen in mir ein Wunder zu sehen oder zumindest begreifen lernen zu müssen, dass ich eines darstelle… ein Wunder.

Drei Wochen sind nun seit dem Rückschlag vergangen. Ich sitze vergnügt am Tisch in meinem Zimmer. Noch hat sich niemand getraut, mir den Stuhl vor die Tür zu stellen. Obwohl eine Assistenzärztin Peter gegenüber so etwas andeutete. Der hat das einfach nicht für bare Münze genommen. Warum auch? Immerhin hat er doch nun wirklich anderes im Kopf, als sich um die Wünsche von unteren Ärzten zu kümmern.
„Wir haben alle Unterschriften. Ich schicke die Karten morgen ab.“
Wir besprechen jeden Tag einiges zu unserem Vorhaben. Mir geht es schon darum immer besser.
Pechtler beschaut meine Werte jedes Mal intensiver und ein wenig nachdenklicher.
„Warum, Herr Rummel? Nun, weil wir schon einmal eine solche gute Besserung hatten und Sie uns dann eine Menge Sorgen bereiteten.“
Ja, aber doch jetzt nicht, oder?
Er lacht mich wissend an.
„Wollen Sie sich nicht lieber schonen und im Bett liegen, als den ganzen Tag am Tisch zu sitzen? Manchmal soll auch im Fernsehen etwas Gutes kommen…“
Nein. So vieles ist zu tun!
Sonja suchte mit Peter ein Notebook bei einem großen Markt aus, und das hat mir mein Sohn dann eingerichtet. Für das Internet und für einige Notizen. Denn was ich trotz der vielen Unterschriften bisher nicht hinbekam, ist, dass ich auch für andere lesbar schreiben kann. Das konnte ich nach der Schule nie wieder. Zu sehr ausgeschrieben, diese Handschrift. Man meinte gar einmal, ich müsse Arzt werden.
Oh, Bolte lachte, als ich das irgendwann erwähnte. Und Pechtler schien das auch noch auf sich zu beziehen. Na ja, sein Geschreibsel besteht wirklich nur aus aneinandergereihten Schnörkeln… aber gut… das geht mich alles nichts an!
Nun haben wir den Ort. War ein Kampf. Es musste abgelegen sein, damit wir niemanden stören. Für die über vierhundert Gäste, also zweihundert geladene und deren Anhang, brauchen wir einen großen Raum. Und zu baufällig darf nichts sein. Sonst kommt niemand oder man schließt uns das Gebäude.
Ich denke an die alte Gaststätte damals am Bahndamm.
Gute Klara…
Das war ein Kegel- und Gartenlokal. Nur von der Eisenbahn aus konnte man den alten Schriftzug noch lesen. Wir stiefelten immer durch das Gelände, brachen auch mal durch eine Diele in den Keller und überraschten als zehnjährige mehr als einmal ein jugendliches Liebespaar, lernten, die erste Pfeife zu rauchen… Eichenlaub… lecker, wenn man sich vorher die Hosen ordentlich unten zubindet.
Da stand ein alter EMW. Die Antwort auf BMW aus Eisenach.
Der Wagen wurde über die Jahre von allen möglichen Besuchern vollständig zerlegt. Aber die Karosse war noch da und man konnte sich, wenn man sich von der alten Kegelbahn einen verbeulten Stuhl holte, gar hinter das schon recht verbogene Lenkrad setzen und die halb zerbrochenen Pedale treten. Lustig!
Dann kam dieser Mann… er jagte uns vom Grundstück und später bekamen wir mit, dass das gar ein Polizist gewesen sein musste, denn da geschah wohl ein Mord und man fand sogar noch Unmengen Medikamente… keine Ahnung. Zumindest war Mutti damals froh, dass ich mich an diese Zurechtweisung des Mannes hielt. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich jemals wieder dahin ging.
Heute steht an der Stelle eine Halle. Irgendeine Firma muss noch zu den alten Zeiten einen Erweiterungsbau… ein Lager oder so etwas… gebaut haben. Erst dachte ich ja, man könne vielleicht diese Halle mieten und alles da drin stattfinden lassen. Aber wir haben Winteranfang. Wer weiß, wie lange ich noch zu leben habe… Wird nicht mehr die Ewigkeit sein. Dann… dann bin ich eben da drin und stehe in der Kälte. Keine schöne Vorstellung. Das Ding hat nämlich keine Heizung und sieht heute nicht mehr so richtig fest aus. Dagegen hielt wohl die Gute Klara etwas länger… auch wenn viele der heutigen angeblichen Neudresdner, dieses zugezogenen Westvolkes, nichts mit dem Begriff anfangen können. Klar, die Klara…
Ich lache in mich hinein.

Ja, da draußen… das macht etwas her. Ein großer Saal, den man zwar schon viele Jahre nicht mehr… aber er ist nicht gefährlich, nicht baufällig. Damit genügt er… und ist heizbar. Erreichbar bei Eis und Schnee? Zumindest bis an die Mauer des wehrhaften Bauernhofes kommt man sicher. Mehr ist nicht nötig!
Noch einmal Lachen. Ja, alles ist in Ordnung.

Heute geht es das letzte Mal in die Röhre. Ich soll danach für gut vier Wochen keine Schmerzen haben und mich auch ganz wohl bewegen können. Um das schon einmal zu testen, bin ich jeden Tag mit Sonja und Peter unterwegs. Natürlich nur auf dem Gelände. Das reicht schon. Weite Wege.
Lange sah mich diese Woche der Pechtler an. Professor… so viel Zeit muss sein. Er hat ja recht. Ich bin fast wie ein Wunder anzusehen. Wer hätte denn jemals geglaubt, dass ich wirklich all dies schaffen kann, mich so am Leben halte und eines Tages laufe… hoch erhobenen Hauptes also aus dem Haus gehe?
Bolte beglückwünscht mich jeden Tag. Er meint, das hätte er nicht ganz so schnell und so gut erwartet. Er glaubt mir, dass mir das herzlich egal ist.
„Darf i Sie denn als Referenz… i muss ja oach seh'n, wie i komm!“
Er lacht dabei.
Na ja, viel Zeit bleibt ihm nicht für seine Referenz. Er will alles dokumentieren in der einen Woche, die ich noch da sein werde… hier auf der Station.
„Und dann oach, wenn Se drauß'n sin'?“
Na ja, wie soll das gehen?
„Koan i dabei sein?“
Wobei?
„Noa, de groß' Doag?“
Ich weiß nicht. Er will sich da mit einklinken? Ich denke, er hat was anderes verdient. Natürlich kann ich ihm das nicht gleich so sagen. Und ich berate mich mit Peter, der mir einen guten Tipp gibt.
Ja, so machen wir es. Er und Pechtler bekommen Einladungen… nur eben zu einem ganz anderen Ort, jedoch zur rechten Zeit. Und später wird er begreifen, warum. Sie werden es verstehen. Da bin ich mir sicher. Nein, wäre gemein. Ach, sollen sie kommen.

Der Tag ist da. Ich soll entlassen werden. Alles ist gepackt. Man glaubt gar nicht, was man sich alles in die Schränke packt oder packen lässt, wenn man den Platz hat und diese ganze Zeit an einem Ort lebt, wo man sich selbst mit größtem Willen nicht wegbewegen kann.
Drei Taschen voll… soviel brauche ich nicht einmal, wenn ich irgendwann in den Süden…
Brauchte.
Klar, es ist klar… Nie wieder werde ich fliegen. Nie wieder. Ich muss… ich muss mich damit abfinden und bin doch eigentlich ganz allein… und zurzeit völlig in Ordnung. Den Umständen entsprechend.
„Können wir?“
Mein Sohn schaut mich stolz an.
Ja, er wünschte es sich. Bolte hat es versprochen, wenn auch schweren Herzens. Und Pechtler… der sprach nach einigen Wochen ebenso von nichts anderem.

Vor der Klinik… da stehen Leute.
Nun ja, hin und wieder gibt es hier einige Promis. Der Ministerpräsident, sogar der Regierungssprecher der Bundeskanzlerin… einige sollen sich hier behandeln lassen. Aber die liegen mit Sicherheit nicht auf der Palliativstation. Oder sollte Schäuble…?
Quatsch… das ist ein Mann, der wie ein Stehaufmännchen alles meistert. Erinnert mich gerade ein wenig an mich. Auch wenn ich noch nichts gemeistert habe… alles mein Sohn und die Ärzte.
„Oh, Herr Rummel… da täuschen Sie sich gewaltig! Ohne Sie und Ihren eisernen Willen wäre das alles nicht möglich gewesen. Das lassen Sie sich mal nicht anders einreden. Ich habe nur die Therapie… mit dem Kollegen Bolte natürlich… wir haben… na ja, Sie waren der, der das alles in die rechte Bahn gebracht hat!“
Pechtler klopft mir auf die Schulter. Vorsichtig. Ich darf nichts tragen, nicht zu schnelle Bewegungen machen und muss mich auch beim Reden im Stehen zurückhalten. Leise muss es sein. Nicht zu schnell… zu große Erschütterungen… sind Gift. Nur bei völliger Entspannung im Liegen ist es mal erlaubt, ganz tief Luft zu holen.
„Aber auch nicht, dass es dann wehtut, ja?“
Na ja, ich versuche…

Mir ist schlecht. Gerade, als Peter mich unterhakt, eine der Taschen in die andere Hand nimmt, da merke ich es… und kann es nicht zurückhalten. Dabei habe ich heute absichtlich nicht zu viel gegessen und getrunken. Eben, um unterwegs nicht auf ein Klo zu müssen. Denn wir wollen den Tag nutzen, gleich zum richtigen Ort fahren, uns alles gemeinsam anschauen.
Speiübel…
Ich beuge mich ruckartig nach vorn, höre das Knacken, sehe, wie sich ein Schwall aus meinem Mund … dunkel ist das alles… und gleich sind Schwestern bei mir, stützen mich. Wenig später liege ich auf einer der fahrbaren Liegen und hinauf geht es in mein Zimmer, das noch fast völlig unverändert auf mich wartet.
Assistenzärzte… dann auch Bolte und Pechtler… alle rennen. Der Alarm auf dem Gang ist nicht zu überhören und ich denke, eigentlich würden die mich lieber auf die Intensivstation abschieben. Das nun wiederum will ich nicht… und ich sage es laut. Ich muss zurück in mein Zimmer. Hier habe ich… Hoffnung?
Ich liege. Gerade so geschafft… und…
Nein, nicht wieder!
Ich komme zu mir. Als wenn ich die letzten Wochen nur in einem Traum verbracht hätte, liege ich fest, kann mich nicht bewegen, habe… habe Schmerzen und höre dieses aufregende Piepen von überall her im Raum. Nur eben, dass ich wirklich immer noch in meinem Zimmer liege. Ein Glück aber auch!
Ich versuche, mich zu drehen. Nein, meine Beine spüre ich nicht. Und da ist… ist ein Druck auf der Brust. Nicht einmal dahin kann ich schauen. Selbst wenn ich mich ganz toll anstrenge… die Augen können sich nicht nach oben bewegen und dann nach vorn schauen. Ich kann nur die Lider öffnen und schließen. Wenigstens das… Schon sehe ich so ein dummes Bild aus einem Film, wo sie einem Mann im Mittelalter die Lider abschnitten, um ihn nach und nach erblinden zu lassen… keine Lider, keine Feuchtigkeit… kein Augenlicht. Aber ich doch nicht!

Besorgte Stimmen. Immer noch besorgt? Liege ich nicht schon Stunden? Nein?
„Papa… da bist Du ja wieder!“
Peter ist da. Sonja scheint erst den Schock verarbeiten zu müssen. Und ich sehe Pechtlers Gesicht.
„Seien Sie froh, dass der Rückfall nun gerade jetzt kam. Das wäre ja was gewesen, wenn Sie mir irgendwo unterwegs oder gar zuhause… Na ja, ging zum Glück noch einmal gut, nicht wahr?“
Gut…? Ich weiß nicht.
Verdammt… was ist denn das für eine verrückte Therapie, wenn sie nicht funktioniert und mich immer wieder umwirft…? Nein, ich habe wirklich keine Lust, das weiter mitzumachen. Da nehme ich mich nun so stark zusammen und versuche, mich richtig in Form zu bringen … kann laufen und so… und dann…
„Ich weiß nicht, was wir noch anstellen sollen. Die Wärmeröhre kann es nicht sein. Die Vitamine sind es auch nicht. Vielleicht kann der Professor Bolte noch ein wenig suchen. Dann hat er noch etwas mehr zum Referenzieren. Der hat ja mehr Angst, dass Sie ihm als sein bestes Ergebnis umkommen, als dass es ihm um Sie selbst geht… Na ja, die Schweizer eben. Ziehen uns die ganzen Ärzte ab und…“
Er meckert noch eine Weile weiter. Ich lache in mich hinein, ohne dass ich das Gefühl der Fröhlichkeit auch nur einen Moment spüren kann. Verdammt aber auch… Doch was soll's. Ich muss zusehen, dass ich klarkomme. Und dann, meine Freunde, dann werdet Ihr alle zum Abschluss noch etwas erleben!
Peter hat den Plan für das große Buffet mit. Eigentlich wollte er das mit mir genau dort besprechen. Nun muss er reden und ich kann nicht einmal antworten.
Eigentlich bin ich mit allem zufrieden. Und doch habe ich Bauchschmerzen, wenn ich nur an das alles, den Stress und so weiter denke. Aber ich muss stark sein, muss es irgendwie durchhalten, mich zusammenreißen und versuchen, es zu schaffen.

Der Rektor hat keine Ahnung, was er tun soll. Er will seinem Professor nicht ins Handwerk pfuschen und kann doch die Schmach nicht auf sich sitzen lassen, die ihm schon der Besuch in meinem Krankenzimmer bereitete. Und darum…
„Eine Kommission wird sich mit Ihnen beschäftigen. Das ist doch alles nicht normal! Ich habe mich belesen… der Bolte wurde schon an drei Kliniken in Deutschland verboten… und nun ist er in Dresden. Die Dummen im Osten können ja noch einmal mit ihm vorlieb nehmen, oder? Mann, Sie, Herr Rummel, Sie wissen doch genau, dass Sie nur hingehalten werden. Krebs… in diesem Stadium… das kann man nicht heilen!“
Ich liege da, spiele etwas abwesend an meinem Funkwecker herum. Dabei fällt mir dieser Streit damals in der Schule ein. Jahre her. Jahrzehnte. Letztens hatten wir doch den 25 jährigen Schulaustritt… und doch sehe ich uns noch in Potsdam. Ja, in Werder an irgendeinem See. Da gab es eine gehobene Jugendherberge… und früh stellte ich mir den Wecker, um mich mit Annette zu treffen. Oh, was gab es da für einen Stress… Ein Junge und ein Mädel… und dann auch noch so lange weg. Na ja, aber die Uhr, die war fast genauso. Nur, dass sie damals noch ein Kabel hatte… nicht mit Batterie funktionierte. Oder doch? Ja, man konnte so einen 9-Volt-Block hineinsetzen und hatte so die Garantie, nicht zu verschlafen, wenn der Strom ausfiel. Nur, dass ich nie einen Stromausfall mit dem Ding erlebte.
„Hören Sie mir überhaupt zu?“
Nein, nur mit halbem Ohr… und auf dem höre ich schon seit Jahren schlechter. Ist eben so. Nicht alles geht im Alter gut. Wobei mich mein Onkel schelten würde… Alter… ich und alt… da ist er doch schon die Steinzeit, oder?
„Also, ich stelle die Kommission zusammen. Ich will auch einen Sachverständigen aus Berlin dabei haben. Sie werden ebenso aussagen. Ich veranlasse das. Die Fragen stelle ich schon zusammen und Sie antworten erst einmal schriftlich. Falls… nun… ähm… falls es eben noch einen Rückschlag…“
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ich könnte den Mann ohrfeigen. Verdient hätte er es auf jeden Fall!

Immer hatte ich mit solchen Typen zu tun. Nur sich selbst wollten sie sehen. Oh, was habe ich wohl im Leben bisher für Arbeitsplätze geschaffen? Nein, nicht wirklich geschaffen. Ich habe die Leute gesucht und gefunden, die da hineinpassten. Bezahlen musste meist jemand anderes. Aber der Dank… nein, der blieb meist aus. Gut, ein paar nette Worte. Das war es… Vielleicht hat mich auch mal einer zum Essen eingeladen. Dass die meist entweder da, wo sie vorher waren, weg wollten oder eh' schon allein zuhause saßen, sich nicht weiter um Arbeit mühten oder schon resignierten und ich ihnen die Arbeit quasi nach Hause brachte… das sahen die vielleicht mal kurz so. Aber dann?
Ja, wenn ich in Not war, stand ich allein.
Geschäftsführer spielten verrückt, ließen mich fallen und niemand stand auf, um sich hinter oder gar vor mich zu stellen. Eher haben die noch alle mitgetreten. Und dann hinterher ganz erschrocken getan. Dumme Kerle!
Und wie war das mit dieser Vertriebssache? Erst biete ich allen Möglichen aus meinem Bekanntenkreis einen Job an, den sie sicher gut… na ja, ob das wohl so gut gewesen wäre? Weiß ich nicht. Zumindest haben die alle nicht mitgemacht… und schon stand ich wieder allein, brach meine ganze Idee zusammen. Obwohl ich felsenfest davon überzeugt bin, dass es geklappt hätte…

Kalt. Es ist kalt um mich. Ah… das Fenster steht offen und die kühle Novemberluft bläst herein. Das kann man doch nicht ewig aushalten! Und diese Decke…
Oh… das war ein Traum. Ich liege in meinem Zimmer, aufgedeckt… ganz aufgedeckt. Die Heizung ist voll aufgedreht… warum friere ich dann? Ach… ich habe…
Alles nass um meinem Po. Ich habe wohl im Traum… Na ja… dann klingle ich mal!
Die Tür geht auf. Herren. Alle wichtig schauend. Verdammt… heute ist diese Kommissionsbesprechung. Und niemand kommt mal schnell vorher vorbei und schaut, ob denn mit mir alles in Ordnung ist. Die denken auch, es wäre einfach mit dieser Krankheit. Aber wartet… das vergeht Euch!
Pechtler steht fast abwesend in einer Ecke. Er gibt keinerlei Weisungen und Bolte muss das übernehmen. Das wiederum regt den Rektor auf.
„Mann, Pechtler… das ist doch wohl nicht wahr, oder?“
Ich lache ein wenig, während nun schnell zwei Schwestern und eine Schülerin in den Raum springen und die Nässe beseitigen wollen. Dauert eine Weile, weil ich gar keine Veranlassung sehe, es ihnen leicht zu machen. Gemein? Na ja, den drei Frauen gegenüber vielleicht. Am meisten trifft es den Rektor, denn in seiner Klinik scheint wohl nicht all zu viel in Ordnung zu sein. Der merkt ganz genau, dass ich es darauf anlege.
Rot ist er. In Rage geredet hat er sich. Dann meint er noch, dass man sich gleich draußen im Konferenzraum weiterunterhält. Dabei scheint doch alles besprochen. Ich werde ihn schocken. Und wenn es das Letzte… Nein, das darf es nicht sein. Ich denke eher, dass ich das als eine gute Übung ansehen kann. Denn, obwohl es in den letzten dreißig Minuten nur um mich ging, durfte ich nichts sagen, stellte man nicht einmal eine Frage an mich. Na ja, das kann ich fast als persönliche Beleidigung ansehen. Darum, mein lieber Herr Rektor, darum werde ich…
„Herr Rummel… was machen Sie denn…“
Er kann es nicht fassen.
Bolte sitzt in der Ecke und hält sich den Bauch. Er weiß, was gespielt wird. Pechtler hingegen ist geschockt. Denn gerade noch habe ich mich von den Schwestern hin und her drehen lassen und nun stehe ich… nein, muss gar zu Fuß gekommen sein.
Zu Fuß…
„Ich habe gehört, dass Sie sich noch weiter über einen Patienten unterhalten wollen?“
Mitten in die Stille hinein frage ich dies. Meine Stimme klingt heute wie ein ganz kleines Reibeisen… so eines für eine Puppenstube. Das scheint nicht zu interessieren. Allein der Umstand, dass ich mich in den wenigen Minuten, nachdem die Herren meinen Raum verlassen haben, umzog und ihnen nachkam, lässt bei der Hälfte der Kommissionsmitglieder gleich den Mund offen stehen.
„Nun… ja… aber…“
Ein älterer Herr, dem ich den Experten auch ohne Vorstellung angesehen und geglaubt hätte, der steht nur kopfschüttelnd auf, schnappt sich seine Tasche und geht an mir vorbei.
„Überlegen Sie sich in Zukunft, ob Sie gegen einen Kollegen vorgehen wollen, der vielleicht eher ein Wunder bewirken konnte, als sich von uns als Scharlatan bezeichnen zu lassen!“
Mit lautem Knall fällt die Tür in den Rahmen.
Ich fühle, wie die Kraft langsam nachlässt, die ich gerade noch in den Beinen hatte, und greife mir einen Stuhl in der Ecke bei Bolte.
„No, gut auf die Bein?“
Ja, sicher. Er schaut mich ein wenig besorgt an. Seine Falten, die er unter dem hohen Haaransatz schnell mal zu einem Gebirge gestalten kann, setzen sich sehr gegen die wilden blauen Augen ab. Ich verstehe manchmal die Welt, und vor allem die Schöpfung nicht… der Mann hat Augen wie ein Terence Hill und dafür auch noch einen Verstand, der mir zumindest einige Zeit lang dazu verhelfen wird, mein Ziel zu erreichen… Endlich… Na ja. Dafür hat der Rektor, dieser kleine und fiese Kerl, nun wirklich nichts mehr zu lachen.
„Herr Rummel, das ist eine Beratung auf medizinisch-fachlicher Ebene. Ich glaube nicht, dass Sie dabei eine wirkliche Hilfe sein können. Und außerdem ist das ja auch nichts für jemanden, der betroffen ist. Immerhin könnten Sie davon einen Rückschlag…“
Ich lache in mich hinein, nicke nur ein wenig vor mich hin und bleibe sitzen, was den Rektor noch einmal mehr in Fahrt bringt. Pechtler fasst ihn am Arm und so beruhigt er sich… zwangsweise.
„Gut, bleiben Sie sitzen. Dann sehen Sie eben Ihrem Ende anders entgegen. Ich glaube eh' nicht daran, dass es noch lange geht. Diese Rückschläge… So hart… Wie erklären Sie das denn, Kollege Bolte?“
Der schien nur auf diese Frage gewartet zu haben und beginnt einen Vortrag, von dem nicht nur ich kaum etwas verstehe…
Nach gut einer halben Stunde habe ich den Eindruck, dass alles um mich herum schläft.
Bolte setzt sich, nickt mir zu und meint lapidar, aber ehrlich, „I glaub, net amal der Pechtler hat ewas verstand. Abr Sie… des is eben e gut ding… also… glaubmer mal, dat jet alls gut is!“
Ja, vielleicht. Und ich habe doch diese… na ja, der Krach letztens… diese verdammte Sache… die Rippen. Meine Knochen sind wie Glas. Nicht einmal darf ich mir erlauben, mich zu schnell und zu abrupt zu bewegen. Und doch… na ja… ja, ich glaube, ich schaffe es!

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