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     und Foto: Stefan Jahnke 
Leseprobe - Cholerabrunnen - Erbe des Krieges
Prolog (Auszug)
...
Immer noch regnet es. Das schon seit Tagen. Harald Bauer schüttelt den Kopf. Gleich sieht er noch mehr Tropfen um ihn herumwirbeln. Dann steckt er sich die Kopfhörer in die Ohren, versucht, deren Vorhandensein mit der weiten Kapuze zu verbergen. Mit sechsundvierzig will er sich nicht als junger Schnösel outen. Nachrichten zu hören… das ist jedoch wichtig. Gerade in den letzten Tagen. Sein Haus steht nahe am Wasser. Ungern verließ er es heute, wollte doch gar nicht herkommen. Die Anderen beknieten ihn. Nein, das ist falsch. Günther legte es fest. Es wäre nötig. Er fragt sich zwar immer noch, warum. Günther oder Rolf etwas abzuschlagen, das vergisst man jedoch sehr schnell. Gerade, wenn man von ihnen abhängig ist… sie ihm das Gefühl vermitteln, es zu sein.
Weiteres Tiefdruckgebiet. Wetterlage ähnlich, wie  schon 2002. Man erwartet das schlimmste Hochwasser in Sachsen. Der Elbpegel  scheint noch fast normal mit seiner doppelten Höhe gegenüber dem sonstigen  Jahr. In Prag versinken Menschen in den Fluten, die Moldau schickt eine  gewaltige Flutwelle zur Elbe und… irgendwann ist die dann hier. Er flucht vor  sich hin. Am kommenden Wochenende wollte er sich ein paar schöne Stunden  gönnen. Literaturfest in Meißen. Die gesamte Altstadt wird voller Menschen  sein. Vorleser, Autoren, Zuhörer, Käufer. Er als Buchhändler mag solche Feste.  Nicht, weil man dort viel absetzen könnte. Spontanläufe sind nichts für ihn.  Die verwässern nur die Statistik… aber…
  Verwässern. Nun ja, man hat nach diesem verrückten  Frühling schon nichts anderes mehr im Kopf. Wird aber auch ein Hammer! Was,  sagte Günther, werden sie heute endgültig beenden? Sagte er überhaupt etwas  oder blaffte er wieder nur in den Hörer, als Harald nicht gleich Feuer und  Flamme für das Treffen war?
  Er winkt ab. Wer ihn beobachtet, greift sich sicher  an den Kopf. Alle, und es sind nur Wenige unterwegs, rennen an ihm vorbei,  versuchen, sich so gut es irgend geht vor dem Wasser von oben und unten zu  schützen, fluchen über umknickende Regenschirme oder Pfützen, die man schon  nicht mehr vom normalen Fußweg unterscheiden kann. Dann kommt noch ein Wagen zu  nahe heran, donnert mit sicher überhöhter Geschwindigkeit in die Lache um eine  verstopfte Schleuse und schon schreien einige nach der Polizei, stehen da, nass  wie die Pudel und nun auch noch bespritzt mit allem, was sich im sicher diese  Woche noch nicht gereinigten Schnittgerinne sammelte. Schön, denkt Harald. Seit  gestern soll meteorologischer Sommer sein.
  Langsam rollt die schwarze Limousine in Richtung  Hofkirche. Harald bemerkte sie nicht, schaut eben die Auslagen des Juweliers im  nahen Hotel Taschenbergpalais an, steht mit dem Rücken zum Cholerabrunnen und  zur Straße. Teuer, denkt er. Viel zu teuer. Vor zwei Wochen fand er eine Einladung  im Briefkasten. Man wolle das soundso lange Bestehen des Geschäftes feiern und  lade interessierte Dresdner und weitere Kunden zur kleinen Feierstunde ein,  wobei nach Champagnerempfang eine Fahrt in eine der traditionsreichsten  Uhrenfabriken der Region erfolgen soll. Da entdeckt er eine deren Uhren. Sehen  schon chic aus, und am Design erkennt man schnell, um welche Preisklasse es  sich handelt. Prestige. Er lächelt.
  Der Wagen wird noch langsamer. Getönte Scheiben im  Fonds. Die Harald Zugewandte gleitet eben lautlos ein kleines Stück nach unten.  Würde sich auch nur ein Passant dafür interessieren, fiele sein Blick auf einen  langen Lauf, der sich nur wenige Zentimeter aus dem Wageninneren nach außen  schiebt, da verharrt, bis der Wagen steht. Vielleicht war da eben ein kleines  Wölkchen. Hören konnte man schon wegen des monotonen Regentrommelns auch auf  die sicher erst vor wenigen Stunden gewaschene Karosse der langen Limousine  nichts. Der Lauf verschwindet, das Fenster schließt sich… der Wagen fährt  langsam davon. Nur keine Aufregung.
Die entsteht eben an ganz anderer Stelle. Eine  Frau, vielleicht Personal des Hotels und unterwegs zum entsprechenden Zugang,  schreit auf, schaut auf den zusammengebrochenen Körper, sieht, wie sich ein  dünner, roter Faden auf dem regennassen Pflaster seinen Weg sucht, bald schon  wieder verschwindet.
  Auflauf. Irgendwann schreien Polizeisirenen und  irgendwer rief einen Krankenwagen, der, selbst jetzt, da man aus dem Juwelierladen  Decken brachte, sich darum bemüht, am Getroffenen die letzte Auffrischung des  Erste-Hilfe-Kurses zu testen, kaum mehr etwas ausrichten kann.
  Ein älterer Herr, grau melierte Haare, tritt aus  der Gasse zwischen Hotel und Schloss, bahnt sich mit ganz leichten Bewegungen  seinen Weg durch die gaffenden Menschen, denen nun der Regen gar nichts mehr  anzuhaben scheint, bückt sich, greift dem Liegenden an die Brust, dann an den  Hals und sucht am Arm neben der einfachen Digitaluhr nach einem Puls…  Demonstrativ schaut er dabei auf seinen silbern glänzenden Chronometer und  scheint die Zeit zu stoppen, schüttelt dann den Kopf. 
  Niemand bemerkt, wie er nun beim sich unauffällig  über den Untersuchten Beugen dessen Mantel durchsucht, etwas entnimmt, auch  etwas dahinein steckt.  Er richtet sich  wieder auf, schlägt den Kragen nach oben, geht den gleichen Weg zurück, den er  eben kam. Niemand schaut ihm nach. Er schreitet aus. Fast scheint es, als gerate  er mehr und mehr außer Puste. Trotzdem ist da ein Schmunzeln auf seinem  Gesicht.
  Der Regen stört ihn nicht. Schnell erreicht er den  Neumarkt, hält auf eine der vielen Gaststätten zu, verschwindet im recht  schmalen Zugang zum ‚Dresden 1900’, dem Restaurant mit einer echten Dresdner  Straßenbahn im großen Gastraum unter der Glaskuppel.
  Weiter hinten in einem Nebenraum sitzen die derzeit  einzigen Gäste. Ungewöhnlich um diese Zeit. Das Wetter treibt die Touristen aus  Dresden heraus. Der Grau Melierte schaut in deren Richtung, nickt, zieht den  triefenden Mantel aus, greift in die Tasche, holt zwei noch nicht zu erkennende  Dinge hervor und geht, nachdem er die ebenfalls nasse Mütze auf die Ablage  neben den Garderobenhaken legte, zum besetzten Tisch, wo man erst jetzt Notiz  von ihm nimmt, gar aufsteht und ihm die Hände schüttelt. Er wehrt ab, setzt  sich und winkt dem jungen Kellner, der ihn zu kennen scheint, schon mit einem  großen Pils kommt, die Karte geschickt unter der Achsel hervorzieht und ihm  hinhält. Keinen Blick riskiert der Ankömmling, sagt ein paar Worte, kennt  scheinbar seinen Geschmack und das hiesige Angebot zur Genüge. Der Kellner  verschwindet.
"Und?"
  Der  Duft des  kalten Bratenbrotes vor Rolf Mauersberger steigt allen in die Nase. Er streicht  sich über die grau melierten Haare, nippt an seinem Bier. Sein Arzt verbot ihm  den Alkohol. Er trinkt trotzdem. Was soll’s? Ist das Leben vorbei, können die  ihn alle mal. Bis dahin macht er, was ihm einfällt. Wie eben draußen im Regen.  Die anderen wollten nicht. Weil es regnet, weil man ja gesehen werden könnte,  weil es gefährlich ist, weil man ein Stück laufen muss, weil es ihnen gegen den  Strich geht, für ihren eigenen Frieden etwas tun zu müssen. Dabei sind sie bei  einer Sache stets ganz schnell… beim Kassieren. 
"Erledigt", meint er. Drei Augenpaare richten sich  auf ihn und seine Hände, die eben preisgeben, was er vorhin aus dem Mantel nahm.  Ja, denkt der. Erledigt. Und doch noch lange nicht vorbei. Erst muss der Dicke  weg sein. Wenn sie sich dazu halten, schaffen sie auch das in den nächsten  Tagen. Und trotzdem ist das nicht das Ende. Sie stecken mitten drinnen. Noch.  Warum? Er weiß es nicht.
  Günther Schnittge, der Honorarkonsul, wie sie ihn  wegen seiner früheren Tätigkeit in München gern nennen, greift nach der Brieftasche  und dem kleinen schwarzen Kasten mit dem unscheinbaren Knopf in der Mitte. Ja,  nimm es, denkt Rolf. Ich will das nicht haben!
  Blaulicht, rot-weiße Absperrbänder, Uniformen,  soweit man nur blicken kann. Begängnis trotz schlechtem Wetter, viele Schirme  sind unterwegs, die Menschen wollen etwas sehen, können aber nichts erkennen.  Polizeiabsperrungen funktionieren nicht immer so gut. Heute schon.
Ein Bratwurstverkäufer wittert das Geschäft seines  Lebens, brachte seinen mobilen Stand gar auf Touren und fährt nun hinter und  zwischen den Schaulustigen hindurch. Warten und Schauen macht hungrig. Gegen  die langsam einkehrende Kälte, bedingt durch immer weiter durchnässte Kleidung,  helfen die eiligst von seiner Frau herzu gebrachten Glühweinvorräte, die noch  vom letzten Winter übrig sind. Gleich steht die Hygieneinspektion hinter dem  Mann. Er muss nachweisen, woher er all dies hat, ob die Verfallsdaten  eingehalten wurden und trotz seiner sonst nicht üblichen Mobilität alle anderen  Vorschriften gelten.
  Er schnauft schon beim Anblick des Prüfers.
"Wein… der kann kippen, aber doch nicht einfach  schlecht werden. Den kann ich auch noch in drei Jahren verkaufen!"
Der Prüfer grient ihn an, fand wohl eben eine  Bratwurstverpackung mit Datum von gestern. Klaus, den alle hier kennen und der  angeblich die beste Wurst in ganz Dresden grillt, winkt ab.
"Kannst’e mitnehmen!"
Schon stehen wieder Kunden vor der Klappe und er  verkauft einfach die letzten Würste aus der beanstandeten Verpackung. Natürlich  gegrillt. Der Prüfer zieht die Augen hoch und schaut noch einmal auf die  Ordnung, vor allem die Sauberkeit. Isolde, Klaus’ Frau, wischt über den kleinen  Tresen und schließlich verschwindet der Mann in der gelben Weste. Klaus  schnieft.
"Soll sich nicht so wichtig machen. So, Senf oder  Ketchup? Und zu den Pommes Mayo? Okay, viersiebzig alles zusammen. Noch einen  Glühwein? Ja, der ist heiß und gut. Hier…"
Es läuft, denkt er und reißt die vorletzte Packung  Bratwürste auf. Isolde sieht seinen Blick und schwingt sich aufs Fahrrad.  Irgendwo in der Nähe kennt sie einen Fleischerladen, der stets ein paar Packungen  für sie im Kühlschrank zurückhält. Er grinst und sieht ihr nach. Dann fragt er  einen der Passanten.
"Was ist eigentlich los?"
Der schüttelt nur den Kopf.
"Keine Ahnung. Ist eben viel Polizei. Haben  irgendwas gefunden. Im Pflaster scheinbar. Da, zwischen der Kirche und diesem  Denkmal."
Ja, denkt sich Klaus. Soweit war er auch schon.  Dann schaut er noch einmal genauer hin. Hmm. Der Kommissar dort, der kommt ihm  bekannt vor. Ja, nicht jeder Polizist kauft bei ihm, aber…
"Was soll das große Aufgebot?"
Behringer schaut über den Platz. Die Kollegen  mussten ganz schön arbeiten, um ihn vom Altmarkt hierher zu bekommen. Früher  wäre das kein Akt gewesen. Von der Schießgasse gleich um die Ecke… na ja, man  baut eben. Und das große neue Polizeizentrum weiter im Norden von Dresden, auch  noch auf der anderen Elbseite, ist nicht geeignet für einen schnellen Einsatz  in der Innenstadt.
Glöckner schaut ihn an.
"Ähm… Toter. Hier!"
Er weist auf die mit einem kleinen Bauzelt  überdachte Stelle. So ein kleines, wie die Kanalarbeiter manchmal aufstellen,  wenn sie im Regen in einen Gulli steigen müssen. Hier um den Neumarkt sind die  alle verschweißt. Geht nicht anders. Außerdem braucht die Stadtreinigung nur  selten Zugang. Bei der vielen politischen Prominenz, die sich erst in den  letzten Jahren seit 2005, der Weihe der Frauenkirche, die virtuellen und realen  Türklinken gegenseitig in die Hand gab, kann man die entsprechende Alarmstufe  ausgerufen lassen.
Behringer schaut hin, kann natürlich nichts  erkennen.
"Lag der hier einfach so herum?"
Seinem Assistenten stellen sich die Nackenhaare  auf. Er weiß genau, Behringer kann ihn nicht leiden. Warum? Keine Ahnung. Er  mag seinen Chef… nur eben nicht, wenn der ihm seine… fehlende Liebe zeigt. Ha,  denkt er noch… Liebe war es wohl nie.
"Im Pflaster… der da, Herr Kramer und Herr Noack, die  können Ihnen das noch besser erklären."
Abweisen, einfach an die Zeugen übergeben. Dann  kann Behringer nicht auf ihm herumhacken. Der schnauft schon, sieht den recht  breiten Mann, auf den sein Assistent zuletzt zeigte. Bei dem sollte er sich  nicht unbedingt einen Patzer erlauben! Wer weiß, wie der reagiert. Er geht auf  ihn zu. Glöckner hält ihn zurück.
"Nicht erst einen Blick auf den Toten?"
Nicken. Dann schlägt der Assistent die Zeltplane  zur Seite. Natürlich ungeschickt hoch drei. Behringer schimpft und versucht,  das auf ihn geworfene Wasser irgendwie fortzubekommen, doch sein Mantel ist  durch. Nichts zu machen. Selbst, wenn Glöckner endlich den bisher geschlossen  gehaltenen großen Familienschirm öffnet und über seinen Chef hält. Der schubst  ihn zur Seite. Trottel, denken beide über den jeweils anderen. Schließlich  schaut Behringer doch ins Zelt und… erschaudert. Nein, er kennt den Mann dort  sicher nicht gut, aber… das Bild ist… nicht gerade etwas für schwache Nerven.  Nicht, dass der Kriminalhauptkommissar über solche verfügte… Trotzdem. So früh  am Morgen, bei diesem Wetter, viel zu vielen Schaulustigen und ohne den sonst  gewohnten Kaffee bei Dienstantritt… Schauderhaft!
"Pflaster. Sie verstehen? Dresden, Sand, viele  Gruben, alte Keller… und darüber Pflaster. Na ja, zu ordentlich hat man damals  vielleicht auch nicht gearbeitet… ich meine, als man den Platz vor der Weihe  pflasterte… und nun hatten wir eben einen Auftrag."
Trotz der Muskeln kann man mit Herrn Noack  eigentlich ganz gut reden. Behringer schimpft sich einen Idioten. Immer diese  verdammten Vorurteile! Dann versucht er, richtig zu erfassen, was der Bautruppführer  meint.
"Ja, keine Ahnung… ähm… jedenfalls, bis wir eben  diese Blase da geöffnet hatten. War einfach da. Einige meinten, wäre schon  länger. Man stolperte eben, und weil sich bisher niemand was tat… Knochenbrüche  oder kaputte teure Kleider… war es eben auch kein Thema. Nun aber… na ja, ist  schon eine komische Sache. Der Präsident soll nach Deutschland kommen. Wieder  einmal. Und scheinbar fraß er an Dresden einen Narren."
Der Kriminalhauptkommissar zieht die Augen nach  oben. Was hat das nun wieder mit dem Fall zu tun? Wenn er an die Kollegen von  der Inneren Sicherheit denkt… Presse und Internet sind Gift für die. Früher  hätte man nach dem offiziellen Besuch einen Bericht verfasst, für die  eigentlichen Stationen ausgewähltes Publikum besorgt… na ja, andere Zeiten. Er  ist nicht stolz auf alles, was früher los war. Doch vom neuerlichen Besuchsplan  des US-Präsidenten für Dresden weiß noch nicht einmal er etwas. Vielleicht eine  Ente? Alles ist möglich. Trotzdem… Darum?
"Ja, also, das sollte eben alles wieder im Lot  sein. Der Auftrag kam gestern. Wie bei all diesen Dingen… höchste Priorität.  Was meinen Sie, wie der Kerl tobte, als ich die Leute abzog!"
Was denn nun noch? Hier? Wenn er hier einen Auftrag  hat, kann er doch keine Leute abziehen… zumindest macht es keinen Sinn, oder?
"Nein, nein, wir haben doch diese Baustelle…  Gohlis. Fast an der Windmühle. Flutschutzmauer. Na ja, ein Monster und ich kann  die Leute verstehen, dass sie sich beschweren. Höre ich aber jetzt die  Meldungen. Wetterbericht, Warnungen und so weiter. Vielleicht hätte doch schon  alles fertig sein müssen?"
Die bauen an einer Flutschutzmauer… sicher noch aus  Mitteln des Hilfsprogramms nach 2002 finanziert? Und für einen Fußweg, eine  Blase im Pflaster zieht man die von da ab? Gibt es keine Bauarbeiter mehr?  Frage über Fragen. Die kann er später klären… oder auch gar nicht. Jetzt geht  es eher um den aktuellen Fall. Er denkt lieber nicht daran, dass er gemütlich  in seinem Büro sitzen könnte, anstatt hier im Regen zu stehen, dank Glöckner  nun ganz durchnässt, wenn der verdammte Präsident nicht nach Dresden kommen  würde. Hmm… vielleicht sollte er seinen geplanten USA-Sommerurlaub absagen?
"Ja, also, eigentlich wollte ich heute  ausschlafen."
Noack stellt sich ein wenig abseits des Geschehens,  zog Behringer einfach hinter sich her. Er mag es nicht, im Vordergrund zu  stehen. 
Der Polizist zieht zwar die Augen nach oben, kommt  aber mit. Er will ja etwas hören.
"Dann kamen wir her. Die Kollegen von der  Stadtreinigung hatten den Platz schon ausgelassen. Wäre ja Quatsch, hier sauber  zu machen, wenn wir dann alles aufreißen. Na ja, die haben manchmal komische  Ansichten."
Dann berichtet er vom Aufstellen der Maschinen.  Längst ist das bloße Pflastern nicht mehr mit der Hand zu erledigen. Gerade,  wenn sich Blasen bilden, wie die Bauarbeiter natürlich zuerst dachten, braucht  man schweres Gerät, um den Untergrund zu bearbeiten.
"Na ja, und dann kam uns die ganze Sache doch eher  vor, wie der alte Witz mit dem Hamster beim Fußbodenverlegen…"
Noack lacht. Behringer kann nicht so recht. Er  schaut auf die Stelle.
"Der lag also einfach so da?"
Nicken, "Ja, wir machten die Steine raus und dann  wollten wir gerade den Sand wegnehmen, als uns die Hand auffiel. Na ja, war  nicht all zu lange später… da hatten wir den ganzen Körper frei."
Toll. Was, fragt sich der Hauptkommissar, soll die  Spurensicherung nun noch im Umfeld finden? Nichts. Ist ja alles schon… weg.  Warum lassen die den Kram nicht einfach so, wie er ist?
"Na ja, wissen Sie…"
Noack wird rot im Gesicht und Behringer will am  liebsten abbrechen, sich eher der Leiche widmen. Dann hört er doch zu.
"…ich dachte an einen Scherz. Ist ja bekannt, dass  einige der Bauleute an der Kirche echte Spaßvögel waren. Haben Sie diese  Zeichnungen gesehen? War erst in der Presse. Man musste einen Teil der Wände  neu weißen und dabei kamen doch einige hinter der ersten Schicht hervor. Sollte  sicher aussehen, wie… aus der Bauzeit von George Bähr. Na ja. Ich glaube ja  nicht immer gleich alles. Und hier… hätte wirklich sein können, dass da  irgendwer eine Gummipuppe versteckt. Wenn man die nämlich zu lange unter stark  begangenen Steinen liegen lässt… nein, hatten wir noch nicht, aber mit einer Luftmatratze  ist es ähnlich. Die bläst sich regelrecht auf. Luft kommt hinein… durch die  Bewegungen. Sie kann aber kaum heraus. Irgendwann kann so ein Ding sogar  explodieren. Sie glauben gar nicht, welchen Eindruck das hinterlässt! Hmm… na  ja, war hier aber doch nicht der Fall. Und dann fielen wir aus allen Wolken,  wussten erst einmal gar nicht, was wir zu tun hatten. Und nun sind Sie hier."
Behringer nickt und geht zurück zum kleinen Zelt.
Rolf Mauersberger ist froh, aus der Runde heraus zu  kommen. Nein, mit denen verbindet ihn sicher nicht viel mehr, als eben diese  eine Geschichte, die heute hoffentlich zu einem Abschluss kam. Er kennt zwar  den Dicken und kann sich vorstellen, dass der sicher noch quer schlägt. Aber…  diesmal wird er das gerne hinnehmen. Das Ende ist absehbar. Besser so!
  Er schlendert über den Platz. Der Menschenauflauf  drüben an der Kirche interessiert ihn erst, als er die Polizeiwagen sieht.  Sollten die nicht eher hüben am Taschenbergpalais ermitteln? Hmm… Auf nichts  ist mehr Verlass! Er schaut zu den vielen Gullideckeln überall auf dem Platz.  Der eine dort, der ist nur noch blind. Vergossen… wie es sein muss. Was die  hier jedoch suchen?
  Eben bahnt sich ein schwarzes Auto den Weg durch  die Menge. Polizei kümmert sich darum. Das ist solch ein Wagen, in dem man am  besten nie liegen möchte. Ein Toter? Noch einer heute? Kaum zu glauben. Für  seinen Geschmack ist der Tagesbedarf schon gedeckt. Verdammt noch eines,  sterben so viele in der Stadt? Natürlicher Tod? Sicher. Vielleicht regte sich  jemand über die horrenden Preise auf, die man bezahlen soll, nur um auf die  Kuppel der Frauenkirche steigen zu dürfen? Dazu noch dieses mehr als nur  abzulehnende Wetter und… Nein, er flucht trotzdem vor sich hin und kann nicht  anders. Neugier? Sicher. Der Mensch hat eine ganz natürliche. Sonst wäre er  kein Mensch. Er zuckt mit den Schultern und versucht, ebenso durch die Enge des  Publikums zu kommen. Dass er Solches schon einmal heute nur wenige Meter  entfernt tat, fällt ihm jetzt gar nicht ein. Er steht am rot-weißen  Absperrband. Hmm… Ein Mensch also. Man stellte ein Zelt auf. Warum? Wer? Sah er  noch nicht. Gut, so viele Tote fanden sich vielleicht auch nicht in der Stadt  und vorhin erst drüben am Hotel gab es keinen Grund… die Polizei war noch nicht  da. Er muss lachen. Kichern fast. Nein, er hält sich zurück, versucht, einen  Blick auf die Trage, vielleicht schon eher eine Bahre, zu erhaschen. Nichts zu  erkennen… zugedeckt. Nur der linke Arm samt Hand schaut hervor, hängt etwas  herunter. Er meint, einen überdimensionalen Ring mit… mit einem Wappen zu  erkennen. Und eine Uhr. Recht dick, diese Hand. Die Finger wirken kurz, wie  eben vom Fett verwachsen. Er schaut genauer hin. Ein Polizist in Zivil… der  muss einer sein… beobachtet ihn. Er schlägt lieber den Kragen weiter nach oben.  Dann bemerkt er, warum der Kerl herüberschaut. Er ist wohl der Einzige, der  keinen Schirm oder eine den ewigen Regen abweisende Jacke trägt. Macht man sich  so verdächtig?
  Er erschaudert. Gerade trägt man die Bahre zum  Leichenwagen. Nahe an ihm vorbei kommen die Träger. Ja, ja, diesen Ring kennt  er… zu genau. Er passt auch zum verfetteten Arm.
  Schnaufen. Er rennt. Nicht einen Moment gönnt er  sich Ruhe.
"Hey, hier können Sie nicht weiter!"
Was? Was soll das? Wer will ihn aufhalten? 
Er geht, wohin er gehen will. Wenn sie ihn stoppen,  dann doch auch nur mit einem Schuss. Sollen sie schießen. Sollen sie ihn töten,  ihn umbringen, ihn auslöschen. Er will leben. Natürlich will er das. Aber wenn  sie… schreien, "Hallo, da steht schon das Wasser!"
Wasser. Blöde Ausrede!
Er rennt und achtet nicht darauf. Die Straße macht  einen Bogen, den er abkürzen wollte, wenn er es denn könnte. Nein, es geht  nicht. Die Stadtentwässerung baute hier nach der Jahrhundertflut ein recht kompliziertes  Rückhaltesystem und…
Sirenen. Sie suchen ihn. Ist er der Täter? Nein, er  brachte niemanden um. Er holte nur ab, was sie brauchten. Dafür kann ihn nun  wirklich niemand verantwortlich machen. Er flucht noch einmal.
Dann zieht irgendetwas für einen Moment den Boden  unter seinen Füßen weg. Er fällt und schlägt hart auf. Was soll das? Wurfgeschosse?  Er las einen Bericht über diese Gummibänder mit kleinen Sandsäcken. Die wirft  man und sie sollen sich um die Füße der Fliehenden legen. So kann man…
Er schweift ab. Nein, hier ist nichts an seinen  Füßen. Etwas Warmes läuft über sein Gesicht. Er greift hin. Fassungslos schaut  er auf seine verschmierte Hand.
Blut. Sein Blut? Oh weh… und sein Herz wummert. Er  ist alt. Zu alt für solch eine Rennerei. Wer aber…?
Er schaut hinter sich. Da ist… ist eine Mauer. Wo  kommt die her? Das ist doch die Weißeritzstraße, oder? Sollte er sich dermaßen  täuschen? Und dort… da steht die Yenidze und gleich vorn an der Ampelkreuzung  geht es in die Magdeburger. Er sollte sich beeilen. Dort gibt es Buschwerk, da  kann er sich in den alten Fabrikbahnanlagen verbergen. Ob es etwas bringt? Sie  finden ihn sicher auch da. Er will nicht aufgeben. Dann fragt er sich, ob sie  ihn überhaupt suchen. Ihn? Warum? Wer sollte auf einen bisher unbescholtenen  Druckereibesitzer kommen? So schnell sind die nicht. Der Dicke… ja, der Dicke  ist tot. Und Bauer auch. Soll er der Nächste sein?
Bauer sollte sterben. Der Dicke aber… der war ihnen  ein Dorn im Auge. Jedoch traute sich nie jemand an ihn heran.
Er hetzt weiter. Schnell nur! Dann fällt es ihm  ein. Die Flutschutzwand. Eben noch dachte er an diesen Bau der  Stadtentwässerung, und als er sie dann aus der Straße hochgefahren stehen sah, kam  er nicht mehr darauf? Darf man solch ein Ding einfach hochfahren, ohne… dass  jemand kontrolliert, wer sich gerade dort befindet? Darum der Polizist, der ihn  aufhalten wollte?
Er biegt in die Magdeburger ein. Schnell, nur  schnell hinein und gut. Da ist… oh, sie bauten auch noch einen Maschendrahtzaun  vor die alten und zugewachsenen Gleise? Er flucht. Drüberklettern? Dann schaut  er die Straße nach vorn. Kein Auto. Weiter vorn flimmert etwas. Sonne scheint  keine. Wer weiß… vielleicht ein paar Pfützen? Der viele Regen… nichts kann mehr  abfließen. Und da ist der Zaun zu Ende. Gleich neben der Eishalle. Gut, wenn er  dorthin kommt, da hinter das Plakat, kann er sich verstecken.
Er rennt, springt in den Graben neben der sonst  viel befahrenen, nun aber völlig leeren und vereinsamt wirkenden Straße. Wiese,  Buschwerk… Dornen. Er flucht schon wieder, schaut an seinem Designermantel nach  unten. Gutes, teures Stück. Wie er jetzt gerade darauf kommt? Er schüttelt sich  und kriecht tiefer ins Buschwerk, am Mantel zerrend, um ihn aus den Dornen zu bekommen.  Hmm…
Ruhe. Dann hört er einen Motor. Er duckt sich,  traut sich nicht, nach vorn zu schauen. Seine Augen könnten ihn verraten, und  wenn er sich ganz dicht an den Boden drückt, wird ihn niemand sehen. Er zwar  auch nichts, aber gut. Egal.
Vorbei. Da waren Stimmen. Klang wie Radio…  irgendwer sprach blechern. Die Qualität der Geräte wird angeblich immer besser,  aber irgendwie nicht wirklich gut. Zumindest klang es eben so. Dann legt er  sich auf den Rücken, schaut durch die Blätter und Baumwipfel gen Himmel, der  sich in graue Wolken hüllt, aus denen es wieder und wieder regnet. Gerade noch  schien es nachzulassen. Nun prasseln die Tropfen in Strängen wie aus Eimern  gegossen auf das Laubdach, welches kaum etwas entgegenzusetzen hat. Er trieft  schon, bleibt aber liegen, spürt nicht, wie sich der Graben unter ihm nach und  nach mit eben jenem Wasser füllt, sich gar mit dem der Straße vereinigt. Erst,  als seine Hand im Wasser platscht, als er sinnierend auf den Boden schlagen  will, fährt er auf, schüttelt sich und sieht die Tropfen um sich  herumfliegen.
So ein Mist… nun lag er fast in einem Fluss. Er  schaut rundherum, lauscht, kann nichts als Wind und Regen vernehmen und kämpft  sich auf einem etwas leichter zu gehenden Weg zurück zur Straße. Dort fließt  schon alles um ihn herum, immer auf die Yenidze, die alte Zigarettenfabrik zu,  in der es nun viele noble, wenn auch kleine Büroräume gibt, in dessen  Kuppelrestaurant er immer gern aß und dahin bereits manchen Geschäftspartner  einlud.
Er schluckt. Alles wird zum See. Er muss hier weg, versteht nur zu gut, warum links neben ihm die Wand nach oben ragt, vorhin gar eine ganze Straße abgeschottet wurde. Dresden bereitet sich auf die zweite Jahrhundertflut nach nur elf Jahren vor. Und er steht da, wo kein Flutschutz mehr greift. Wohin kann er gehen?
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