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     und Foto: Stefan Jahnke 
Leseprobe - Pestkolonie - Ein Friedewald-Krimi
Kapitel 3 - Der Tod klärt nichts (Auszug)
...
"Geh doch endlich ran!"
  Holger schimpft schon eine Weile am Telefon herum,  aber sein Gesprächspartner in spe meldet sich nicht.
  "Verdammt, verdammt… ich brauche… ich schaffe das  nicht bis zum Arzt! Mann, das ist doch alles nicht wahr! Möchte nur wissen,  woher ich das habe…"
  Das Gestänge… mit letzter Kraft schleppte er alles  in seinen eigenen Wagen. Ein alter Golf, den er sich vom Munde absparte und den  ihm seine Eltern schon mehrfach vorwarfen. Er würde sich nur um seinen Kram  kümmern, aber ihr Hof verfiele immer mehr. Er legte ihnen an diesem Morgen  einfach dreihundert Mark auf den Tisch. Hätte er verdient und sie sollten davon  das Wichtigste besorgen. Natürlich waren sie gleich still und wagten nicht,  wieder über ihn herzufallen. Trotzdem bemerkte seine Mutter genau, dass es ihm  nicht gut ging.
  "Zu viel gesoffen, oder? Na, sieht dir doch wieder  ähnlich!"
  Er will auffahren, bemerkt aber, wie seine Kräfte  immer mehr schwinden. Verdammt noch eines! Was ist nur mit ihm los? Er hat  keine Ahnung, nur ein schlechtes Gewissen und ein ganz dummes Gefühl. Ob er  noch einmal in den Keller laufen sollte? Vielleicht sieht er da, was ihn so  fertigmachte?
  Pusteln. Schlimm sehen die aus. An der Hand. Als  wäre er in Feuer geraten, hätte sich verbrannt. Verflixt noch eines, das geht  doch gar nicht! Er muss… muss nach Meißen. Ganz schnell. Die werden ihm auf die  Füße treten, wenn er nach der Verlängerung wieder nicht pünktlich zurückkommt  und den ganzen Kram abgibt! Man muss sein Schicksal nicht auch noch  herausfordern, sagte er sich immer und hat meist bei solchen dummen Ideen auch  noch recht. Nun schluckt er einen Moment. Na ja, vielleicht baut ihn ein Bier  auf? Im Kühlschrank steht immer welches. Heute? Ja! Vater trank… soff… nicht  alles aus.
  "Aha, der edle Herr Sohn…"
  Vater hält sich den Mund zu, als sein Blick auf  Holgers Hand fällt.
  "Junge, was hast Du denn gemacht?"
  Nichts. Was denn nur? Nichts natürlich. Er ist ja  nicht blöd und wird jetzt reden. Hat sicher nichts miteinander zu tun. So  schnell holt man sich so etwas sicher nicht weg. Er schluckt. Na ja, wenn er  nachts erschrickt, hat er auch schon am Morgen eine Pustel, eben so eine dumme  Blase an der Lippe. Nee, nicht so was Schwarzes, oder?
  "Ich bin dann mal weg!"
  Sein Vater schaut ihm nachdenklich hinterher.
  Gas geben. Er muss schnell machen. Erst fährt er  zum Auer, dann hinunter nach Coswig und danach immer an der Elbe entlang. Ihm  ist nicht wohl. Das Bier aber, das nahm zumindest ein wenig die Scheu. Kann er  das so sagen? Er grinst und gleich tut ihm das Gesicht weh. Wie denn das?  Vorsichtig fährt er an den Straßenrand, hält an und schaut in den Spiegel. Oha…  rot. Das ganze Gesicht ist rot. Das ist… nicht gut. Begann es auch so am Arm?  Weiß er nicht. Er warf sich ins Bett… natürlich ohne sich zu waschen oder noch etwas  zu essen. Dann wachte er irgendwann wegen der Schmerzen im Arm auf und sah die  Bescherung. Schmerzte das so? Nein. Im Gesicht spürt man das alles ganz anders.
  Hmm… weiter. Die haben zum Freitag sicher nicht zu  lange auf. Er muss es schaffen. Ob Gerd und Frank auch klarkommen? Erst wollte  er noch einmal beim Ratsschreiber vorbei, ließ es dann jedoch. Ihm war… nur  noch schlecht. So eine verdammte… nein, er sollte dieses Fluchen langsam  lassen. Es bringt nichts. Macht nur noch weitaus mehr müde.
  Da, die Burg. Noch über die Brücke und das Tal nach  hinten. Dann ist er bald bei der richtigen Firma. Er schlägt sich ins Gesicht,  versucht, sich zu kneifen, eben munter zu bleiben. Oha. Geschlafen hat er nun.  Aber was soll’s… die anderen Tage hängen ihm eben noch an. Er wird ein paar  mehr Stunden brauchen, um wirklich fit zu sein… wenn er es jemals wieder wird.
  So, da ist die richtige Einfahrt. Ob er es von hier  noch einmal mit Anrufen versucht? Dann kommt ihm seine Dummheit erst in den  Kopf. Verdammt noch eines. Die sind unterwegs. Er kann Frank gar nicht  erreichen. Wie denn? Der ist nicht da und… zuhause bei ihm klingelt es eben,  bis die Telefongesellschaft das Besetztzeichen sendet.
  "Oh, da ist ja unser Gestänge. Na, wurde aber auch  Zeit! Da, geh’ mal zum Meister. Der will noch ein ernstes Wort mit Dir reden!"
  Ernst… er kann jetzt sicher nicht zuhören. Was  bezahlte er schon? Einen Fuffi. Die haben richtig Kasse gemacht. Bloß für die  Leihe einen Fuffi… na ja, wenn er jetzt noch einen drauflegt, werden sie misstrauisch.  Darf er auf keinen Fall provozieren. Aber zwanzig Mark… das ist sicher in  Ordnung. Gab seine Mutter auch manchem Handwerker, wenn er ihr schnell half.  Was sie denen sonst noch gab? Na, das geht niemanden was an. Seit sein Vater  drüben im Puff bei Radeberg gesehen wurde, meint sie, sie hat alles frei. Den  scheint das aber nicht zu stören, denn der fasst sie eh’ schon lange nicht mehr  an. Komisches Verhältnis… gleich sind die Kopfschmerzen wieder da, die er an  der frischen Luft vergessen hatte.
  "So, mein Junge… oha, wie siehst Du denn aus?"
  Er zog sich eine weite Jacke über. Das Gesicht  versteckt sie nicht.
  "Ja, also, das war nun eine Woche mehr… und ich  hatte nicht einmal eine Kennung, ob Du wirklich wiederkommst. Ich war wirklich  so kurz davor, die Bullen zu holen… na ja!"
  Die Bullen… wäre sein Gesicht jetzt nicht so rot,  würde der Meister gleich sehen, dass er bleich wurde. Die Bullen, die kann er  jetzt wirklich gar nicht gebrauchen.
  "Ich habe doch angerufen, oder nicht?"
  Diese schnippische Rede mag der erfahrene Werker  nicht.
  "Pass mal auf, mein Freund…"
  Er kommt nicht weiter, denn Holger legt einfach  einen Zwanzigmarkschein auf den Tisch, schaut ihn frech an und dreht sich um.
  "Ähm… ja, also… okay, vergessen. Aber… bitte such  Dir das nächste Mal jemanden anderen, gut?"
  Er soll nicht wiederkommen? Kann ihm nur recht  sein. Dann können sie ihn auch nicht verraten und in irgendwas hineinziehen. Er  glaubt eh’ dass sie in den nächsten Tagen drauf kommen, was er tat. Noch stand  nichts in der Zeitung. Denkt er, denn wenn das Radio nichts vom Bruch in  Friedewald bringt, steht da auch nichts drinnen. Da ist er sich ziemlich  sicher.
  Er will weg. In den Süden. Ob er nun zum  Ratsschreiber fährt, den Keller aufbricht und sich seinen Anteil nimmt? Egal,  ob es dazu zu früh ist oder auch nicht. Er hat einfach Schiss, nichts mehr  davon zu haben. Diese Schmerzen…
  Er sitzt im Auto und hält schon wieder am  Straßenrand. Vorhin hatte er noch die gute Idee und spritzte Schlamm an die  Nummernschilder. Die auf dem Hof konnten seine Kennzeichen sicher nicht deuten.
  Vorsichtig steigt er aus. Die Bullen sollten ihn  jetzt erst recht nicht anhalten. Zu gefährlich. Also nimmt er einen Lappen und  beginnt, die Schilder zu reinigen.
  "Hallo, hallo junger Mann… alles in Ordnung?"
  Häh? Was? Holger fährt hoch, stößt sich hart an  seiner eigenen Stoßstange… an der seines Autos natürlich. Er braucht einen  Moment, ehe er weiß, wo er ist. Straßenrand. Er lag… lag vor seinem Wagen.  Dieser alte Golf… na ja, nun ist das Kennzeichen sauber.
  "Kann ich Ihnen vielleicht helfen?"
  Wer redet da? Ach, der Mann dort. Alt, langer  Mantel, Hund… zum Glück leckte der nicht auch noch über sein Gesicht. Komisch.  Sonst kommen die Tiere immer gleich zu ihm. Der da, der versteckt sich  regelrecht hinter seinem Herrchen. Verstehe mal einer die Tiere! Er will  lachen, doch es fällt ihm einfach zu schwer.
  "Na, Sie sehen ja aus! Haben Sie Fieber? Oder  vielleicht zu schnell gelaufen? Getrunken? Dann dürfen Sie sicher nicht mit dem  Auto… na ja, ich kann Ihnen helfen… nicht? Dann schönen Tag noch!"
  Er winkt ab. Der Mann geht, der Hund zieht ihn  regelrecht von ihm weg. Nicht zu verstehen. Muss er überhaupt etwas verstehen?  Nein, sicher nicht. Er schluckt nur kurz und lacht in sich hinein. Dieser Alte!  Was wollte der nur? Dann setzt er sich auf die Motorhaube. Das juckt vielleicht  am Arm! Vorsichtig zieht er den Jackenärmel hoch. Oh verdammt noch eines! Nur  noch Blasen. Schwarz und rot. Kaum zu glauben! Die… die jucken. Er kann doch  nicht…?
  Vorsichtig tastet er über sein Gesicht. Dann  überkommt es ihn. Er muss brechen, sich übergeben. Schnell vom Auto weg und an  den Wiesenrain neben der Straße. Oha!
  Kaum halten kann er sich. Es würgt ihn von ganz  unten herauf. Und er meint, alles aus sich herauszubringen… vom Frühstück über  sämtliche Organe bis hin zur eigenen Seele. Auch wenn er an diesen Quatsch  nicht wirklich glaubt. Man sollte… tolerant sein. Er ist es nicht. Erst recht nicht,  wenn es um ihn und… sein Leben geht.
  Endlich fertig. Vorsichtig öffnet er die Augen.  Niemand um ihn herum zu sehen. Der Alte muss schon weit weg sein. Nicht einmal  eine Spitze vom Mantel vor oder hinter ihm. Vielleicht geht da irgendwo ein Weg  zur Seite ab. Verdammt! Dann fällt sein Blick auf… auf das, was da aus ihm  heraus kam.
  NEIN!
  Er will schreien. Ihm wird schwindelig. Gerade so  kann er sich an einem dünnen Bäumchen neben sich festhalten, schaut noch einmal  ungläubig auf das, was da liegt.
  Rot… viel Blut. Eine undefinierbare Masse. Aus  seinem Mund? Er denkt an einen Film, den er gleich nach der Wende sah. Horror…  und doch nicht so schlimm, wie das jetzt. Es betraf ihn schließlich nicht. Das  da… kam aus ihm selbst heraus.
  Er muss nach Hause, denkt er bei sich, sieht zum  Auto. Schafft er das? Er schüttelt sich immer wieder. Vielleicht ist es zu  schaffen, vielleicht auch nicht. Er war immer ein guter Fahrer, wenn man ihn  ans Steuer ließ. Hier in der Einöde hinter Meißen, im Grund, da…
  Warum fuhr er nicht gleich nach Meißen zurück und  über die Elbe, eben nach Hause? Nein, er wollte keine Spuren hinterlassen.  Sieht er auf das, was er da eben herausbrachte, kann er das schon gar nicht  mehr bestätigen. Er braucht… da drüben liegt ein Laubhaufen. Den wird er darauf  werfen… einen Teil davon. Dann ist das zumindest erst einmal weg und das  Wetter, die Temperatur, vielleicht auch ein paar Tiere werden alles dafür tun,  damit nichts davon an die Öffentlichkeit kommt, wie man so schön sagt.
  Er schuftet. Nein, es ist sicher keine große Sache,  so etwas zu tragen, zuzuschütten. Dabei denkt er an Frank und Gerd, die  vielleicht eben Ähnliches tun, nur eben mit einem größeren Nutzen…
  Geschafft. Alles weg. Er fühlt sich leer. Total  ausgesaugt. Kein Wunder nach der Attacke. Ob er…? Da hinten irgendwo, weiter im  Grund, da war immer ein Konsum. Ob es den noch gibt? Kann er es riskieren, da  hineinzugehen und einzukaufen, was zu essen und zu trinken zu holen? Er spürt  genau, ohne so etwas im Magen kommt er nicht mehr weit.
  Nicht mehr…
  Gestern noch, als sie die Säcke füllten, alles  sichteten, da sprachen sie von einer Zukunft… Diese Sache machte alles  zunichte. Glaubt er. Vielleicht müsste er nur zum Arzt gehen und ihm zeigen,  was geschah… und schon… schon hätte der… genau das richtige Medikament, wäre in  ein paar Tagen zwar mit Narben übersät, aber eben gesund, soweit man ihn jemals  als gesund bezeichnen kann, wenn er solche verrückten Brüche mitmacht…
  Konsum… ist der erste Schritt. Er könnte einem  Doktor nicht einmal mehr sagen, was er hat. Nun ja, der sieht das sicher  selbst, aber man will ja reden, sich nicht so stumm zeigen.
  Er hat Angst. Dann schleppt er sich auf die  Fahrerseite des Transporters. Da kommt ein Laster, großer Lkw. Der Luftzug  reißt ihn fast weg, obwohl das Ding sicher nicht schneller als die erlaubten  achtzig fuhr. Das ist alles nicht normal. Er kann nichts mehr, ist schwach und…  hat endlich die Tür auf. Mann, das dauerte vielleicht!
  Mühsam quetscht er sich hinter das Steuer. Gut,  gut, es klappt. Der Motor springt an. Er schaut noch einmal zum Haufen, hat  einen Moment das Gefühl, er würde ihn auf diese kurze Entfernung nicht  erkennen. Doch dann ist die Sehschärfe wieder da. Prima!
  Er schluckt, fährt. Vorsichtig. Nicht zu schnell.  Unweigerlich denkt er an die vielen alten Leute, die er schon als Hutfahrer  bezeichnet, weil sie einen Hut tragen oder einen mit einer Toilettenpapierrolle  hinter der Heckscheibe des Wagens liegen haben. Blöde Kerle. Halten sich an  jede Geschwindigkeitsbegrenzung und fahren dann sogar noch langsamer, als eben  erlaubt. Na ja, er macht sich zu viele Gedanken. Vielleicht sollte er einfach Gas  geben. Wenn es zu Ende gehen soll, dann vielleicht gleich bei einem Unfall? Er  könnte sich für diese Gedanken ohrfeigen, wenn er noch die Kraft in sich  verspüren würde. Aber die wird immer geringer. Zum Glück kann er noch Gaspedal,  Kupplung und Bremse betätigen. Das wird auch immer schlimmer! Er schluckt und  schluckt, bemerkt schon, dass sein Speichelfluss versiegt. Ein Zeichen, dass es  zu Ende geht? Nein, dass er Durst hat, nichts in ihm ist, er etwas zu essen  braucht und, und, und…
  Er beruhigt sich, als er die blaurote Schrift auf  dem weißen Schild erblickt. Konsum. Er wusste es doch. Hier gibt es einen.  Zufrieden fährt er auf den kleinen Parkplatz davor.
  Zu. Warum um alles in der Welt ist denn dieser  verdammte Konsum zu? Er schaut fragend und unschlüssig auf das Schild an der  Tür. Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen. Na toll! Und nun? Nicht einmal ein  Hinweis, wohin er sich jetzt wenden könnte. Dann schaut er sein Spiegelbild an.  Warum sollte jemand so etwas an die Tür hängen? Hier in der Umgebung, wo er nur  ein paar wenige Häuser sieht und es sicher auch nicht so viele mehr geben wird,  wissen doch alle, wo der nächsten Laden ist und die Fremden, die vielleicht wie  er hier vorbeikommen, die fahren einfach weiter, scheren sich nicht um ein paar  Minuten. Er aber.
  Kraftlos schleppt er sich zurück zum Fahrzeug.
  Essen, trinken… vielleicht gibt es hier irgendwo  einen Gasthof? Er erinnert sich nicht, fuhr sicher nie ganz so weit hinter ins  Tal, wie nun, nachdem er diesen Parkplatz unverrichteter Dinge verlassen  musste. Fehlschlag. Ein Ohmen für ihn und die Kumpane? Er nennt selbst Frank in  diesem Moment nicht mehr ‚Freund’. Warum denn auch? Der ließ ihn zurück. Ja,  natürlich, der weiß nichts von seinem Zustand. Aber wenn er es erfährt… wird  sich etwas an seinem Auftreten und Tun ändern? Nein, sicher nicht. Dem geht es  doch auch nur um seine eigene heile Haut.
  Heile Haut…
  Nachdenklich rollt Holger langsam wieder an den  Straßenrand. Unübersichtliche Kurve. Er kann und darf hier nicht stehen  bleiben. Aber… heile Haut? Er hat keine. Woher denn? Nein, er ist ein… Nichts.  Leider ist er das. Und er hat nichts mehr von ihrem Bruch. Warum soll er dann  nicht zur Polizei gehen? Warum er daran denkt? Das kleine Kaff eben, das hatte  eine Polizeistation. Da könnte er Frank und Gerd verpfeifen, sich im Gegenzug  in ärztliche Behandlung begeben und zusehen, wie er… wie er eben doch noch  lebend, wenn auch nicht frei aus alledem herauskommt. Immerhin brachten sie  keinen um. Wenn er von sich und seinem jetzigen Zustand mal absieht. Kann man  das der Tat zurechnen? Sicher. Er ist krank… zu krank. Es geht ihm mehr als nur  schlecht.
Wieder tritt er auf den Fahrfußhebel, wie man ihm  letztens beibrachte, dass man das Gaspedal so bezeichnen müsse. Er lacht auf,  bremst, als er die nächste Kurve für seine Verhältnisse zu schnell angeht. Er  darf nicht… darf nicht… na ja, er darf einfach nicht hier umkommen. Nach Hause.  Ist doch egal, ob sie ihn unterwegs sehen. Wer interessiert sich denn für ihn?  Niemand natürlich. Er ist und bleibt ein Nichts. Und er schluckt auch bei  diesem Gedanken. Dann wendet er und fährt das ganze Triebischtal zurück, immer  in Richtung Meißen. Über die Elbe, nach Hause irgendwie zurück nach Friedewald.  Das allein ist sein Wunsch. Ob er es schafft?
 "Nun sei nicht feige, ja?"
  Jan schaut Tina herausfordernd an. Die will nicht  in den Keller steigen. Es ist erst acht Uhr und sie stahlen sich ohne Frühstück  davon. Toni ist auch schon da und lacht sie an.
"Na, ist doch nichts dabei. Wir klettern durch das  halb offene Fenster hinunter, schauen uns um und dann können wir was erzählen…  so oder so. Wenn uns jemand erwischt… haben wir Werkzeug dabei, um einen Keller  zu knacken? Jeder glaubt mir sicher die Geschichte mit meinem Uropa… und  angeblich weiß sie ja auch jeder hier im Ort, oder? Also, keine Angst und  einfach runter. Geht schon. Ganz sicher! Los jetzt!"
Jan schaut zu Toni. Der hat wirklich keine Angst.  Gut? Er weiß es nicht so recht. Zu vieles sollte man sich auch nicht zutrauen.  Nicht, dass das mal ganz nach hinten losgeht. Aber jetzt… die Geschichten  stimmten scheinbar. Opa Hugo erzählte davon und Tonis Mutter wusste es auch.  Susanne, Jans und Tinas Mutter, wollte heute Morgen mit ihnen beiden wegen  gestern reden. Sicher fragte sie den Opa wieder aus und der konnte nicht  anders, musste von seiner Geschichtsstunde berichten, was seiner Mutter sicher  nicht recht ist. Jan zieht bei dem Gedanken die Augen hoch.
"Aber wenn Mutti uns nun böse ist, weil wir einfach  weg sind?"
Jetzt zieht Jan die Luft hart ein.
"Böse, böse… quatsch! Die wollte nur reden und uns  was verbieten. Solange sie es noch nicht konnte, wird sicher auch nichts  passieren. Verstanden? Also, jetzt geht es runter und ich will wissen, was an  der alten Geschichte dran ist."
Toni nickt und klettert als Erster durch das  Fenster. Das war nur angekippt, aber mit zwei geschickten Griffen konnte Toni die  linke Halterung aushebeln. Schon allein darum würde die Polizei ihnen sicher  nicht mehr nur einen Kinderstreich unterstellen. Tina weiß das, behält es  lieber für sich. Wer weiß, wie sie sonst wieder ausgelacht wird! Das nun gerade  kann sie gar nicht leiden.
"Phu, dunkel hier… Mann, haben die kein Licht?"
Jan stolpert über etwas Großes, Weiches… er bekommt  etwas Angst. Vielleicht ein Mensch? Zu anschaulich stellte er sich vor, wie die  Dorfbewohner damals Tonis Uropa hier unten fanden. Tot… ob da hin und wieder  auch mal jemand anderes liegt? Dann atmet er erleichtert auf. Aha. Tina ist  unten und kam mit ihrem Knie an den Schalter. Den hätten sie sicher eine ganze  Weile gesucht.
"Oh, Säcke… vielleicht mit Menschen drinnen?"
Toni macht sich über Tina lustig. Jan schaut ihn  sauer an und schon ist er still.
"Hmm… eben ein Keller, oder? Nichts weiter. Säcke  und Türen."
 Holger schafft es. Er muss es schaffen. Einige Male  auf der Fahrt an der Elbe entlang schlief er fast ein. Die Augen fielen einfach  zu und er konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. So ein Ärger aber auch! Er  flucht dann. Aber selbst seine Flüche sind nicht mehr stark. Er kann gar nicht  mehr richtig denken. Nur, dass da vorn am Ortsschild ‚Auer’ steht, das bekommt  er schon mit. Er muss abbiegen, nach rechts, sonst kommt er in Moritzburg  heraus und muss entweder über Reichenberg oder direkt am See entlang auf der  verbotenen Straße fahren. Nein, niemand im Dorf würde ihm darum zürnen, aber  alle können es sehen… und das muss er verhindern. Wie soll er denn erklären,  dass er am frühen Morgen nach Meißen fährt, da nichts Offizielles zu tun hat,  auch keine Freundin oder einen Freund dort benennen kann, der ihn sah, dann  zurück kommt und auch noch… über Schleichwege fährt, nicht wirklich gesund  aussieht und sich kaum mehr auf den Beinen halten kann? Als Polizist würde er  ihn auf jeden Fall sofort befragen und dann schon recht schnell wissen, was er  tat… und wenn er nicht aufpasst, plaudert er wirklich noch aus, mit wem er es  tat. Er… ist doch kein Verräter!
  Nichts hat er gegessen. In Coswig hielt er fast an,  wollte noch etwas kaufen, ließ es dann jedoch auch und fuhr einfach weiter. Er  fluchte zwar wieder. Wenn sein Auto sich all diese Flüche merken könnte, wäre  es sicher richtig sauer mit ihm. Dabei fuhr es, ohne dass er tanken musste. Der  Zeiger ist noch in der Hälfte. Nein, die Anzeige hängt sicher nicht, wie die,  die er sich in seinen Trabi einbauen ließ. Da blieb er dann trotz Reserve  einfach stehen und… wurde zum Gespött. Zum Glück passierte es nicht hier. Er  erzählte es auch niemandem. Solche Dinge behält man lieber für sich allein.
  Am Auer fährt er vorbei. Er kann nichts mehr sehen.  Die Straße verschwindet fast vor seinen Augen. Dann bekommt er den Fehler mit.  Oh Mann, gerade noch dachte er daran. Nicht geradeaus, sondern rechts abbiegen.  Er verpasste es. Toll! Wenden… in einen Waldweg hinein, aufpassen, dass ihn  weder der Förster dabei erwischt noch dass er sich festfährt… und dann weiter,  zurück. Jedoch am Auer links abbiegen. Nicht rechts… das muss er sich merken.
  Er steht im Wald. Nicht festgefahren, aber zu müde.  Ein paar Minuten nur die Augen schließen. Hier kommt schon keiner vorbei!
"Hallo? Hallo? Hey, Du bist doch der Holger aus  Friedewald, oder? Na, los, aufwachen! Hier kannst Du nicht parken! Auch noch  mit der alten Karre… also wirklich! Los, los, fahr’ weiter, ehe ich es mir  anders überlege. Hast Du ein Glück, dass da gerade kein Öl raustropft! Mann,  die ganze Umwelt, die Natur… und gerade Du, einer von hier… nein, nein, das ist  gar nicht schön! Los, fahr… ich habe nichts gesehen!"
Er tritt noch einmal aufs Gas. Was interessieren  ihn Forstarbeiter und… Geschwindigkeitsbegrenzungen? Die Kurven werden immer  enger. Verrückte Gegend! Warum baute man die Straße nicht einfach gerade in die  Landschaft? Nur wegen der kleinen Teiche links und rechts, vielleicht wegen der  alten Bäume? Die kann man jetzt umhauen und neue pflanzen. Irgendwann fallen  sie eh’ um… da stehen sogar schon ein paar neue.
Auer… rechts. Das hat sich eingebrannt. Wieder  falsch! Er muss nochmals wenden. Dann geht es vorbei an jenem Zugang zum Wald,  wo ein Denkmal für einen Wolf steht. Er wunderte sich schon als Kind darüber.  Man setzt einem so grimmigen Tier ein Denkmal? Damals war sein Vater noch ganz  bei sich und erzählte hin und wieder etwas aus der Gegend. Soll wohl… na ja,  soll… wenn er es sich wirklich richtig merkte… das Nachdenken fällt immer  schwerer. Verdammt noch eines! Es soll für den letzten abgeschossenen Wolf in  der Gegend stehen. Jetzt redet man davon, wieder Wölfe in den Wäldern  anzusiedeln. Warum? Keiner kann es wirklich nachvollziehen, aber dafür ist Geld  da…
Geld… Das war es, was ihn zu Frank und sie beide zu  Gerd trieb. Geld… nur dieses verdammte Geld. Er könnte fluchen, lässt es aber  gleich wieder. Das macht auch nichts besser.
Gas geben… Er muss nach Hause, wird aus dem Wagen  krabbeln, zu seinen Eltern kriechen, sie anflehen, dass sie ihren Bekannten,  diesen Doktor anrufen, der ihn vielleicht untersucht und behandelt, ohne gleich  ein Krankenhaus und die Polizei einzuschalten. Er muss… muss sich eben nur  beeilen. Der hat sicher auch nicht zu viel Zeit. Der ist ein viel beschäftigter  Mann…
Oha, die Kurve war aber eng! Gerade so geschafft.  Das hätte…
Er muss bremsen. Ein Laster und dahinter ein paar  Pkws kommen ihm entgegen. Er schafft es und… tritt schon wieder zu.
Bremsen, bremsen…
Wie von Ferne hört er diesen Ruf, kann ihn kaum  verstehen noch wirklich einschätzen, ob er ihm gilt. Wer ruft da? Ist es seine  Stimme, die von Frank, von einer alten Freundin? Ach was, die sind alle nicht  hier, die können ihn nicht rufen. Er bildet sich den ganzen Kram nur ein. So  eine Dummheit! Noch einmal Gas geben und… diese Kurve nimmt kein Ende… er kann  nicht mehr, er…
Noch ein Krachen ist es, was er zuletzt wahrnimmt.  Einen Moment lang glaubt er, einen hellen Lichtblitz zu sehen, kann ihn jedoch  nicht wirklich erfassen. Dann wird es dunkel.
Nach Hause, nach Hause, denkt er immer wieder, als  es ihm kälter und kälter wird. Ein Baum. Was machte dort ein Baum, denkt er  noch und dann kippt sein Kopf zur Seite.
"Säcke mit Abfall. Seht Ihr doch. Die kommen auf  den Müll. Alle schon zugebunden und sicher gar nichts für uns. Also, lasst den  Kram mal sehen. Schauen wir uns lieber die einzelnen Keller und das Gewölbe da  hinten an. Hier… schaut mal, da hat jemand einen Teil abgetrennt. Ging wohl  noch weiter nach hinten, oder?"
  Toni wurde ohne eine Absprache untereinander zum Anführer  der kleinen Erkundungstruppe. Er steht schon am anderen Ende der Kellerräume. Dort  erkennt man deutlich, dass das hohe Gewölbe nicht zu Ende geht. Eine Tür ist in  der Mitte angesiedelt, drum herum mauerte man den weiteren Gang und Raum einfach  zu.
"Hmm… vielleicht nicht abgeschlossen, sondern nur  eingeklinkt?"
Vorsichtig drückt Jan auf die Klinke.
"Tatsächlich. Offen. Los, weiter… wenn wir hier  zumachen, kann uns keiner sehen. Los, kommt schon!"
Tina trottet missmutig hinterher.
"Wenn die das abteilten, gibt es dort sicher kein  Licht!"
Sie könnte recht haben, aber Toni und Jan lassen  sich nicht beirren. Schon gleitet Tonis Hand auf der anderen Seite der neuen Mauer  an der Wand entlang.
"Ha, hier… Lichtschalter. Passt mal auf!"
Klick. Schon wird es heller. Die Drei gehen  hinüber, schauen noch nach, ob sich auf dieser Seite auch eine Klinke befindet,  schließen die Tür und sehen sich um.
"Boarh eh!"
Mit offenen Mäulern stehen sie da und stieren auf…  vielleicht zehn oder mehr blitzenden Autos.
"Das ist ja… wartet mal… das sind doch alles  Oldtimer… oder Youngtimer, wie man die nennt, die noch nicht so alt sind. Hmm…  schön! Mann, müssen ganz schön teuer sein! Wem werden die gehören? Habt Ihr  eine Ahnung?"
Jan und Tina wollen den Namen gleichzeitig  ausrufen, besinnen sich aber und flüstern ihn nur.
"Mario, das ist der Besitzer vom Ratsschreiber,  verstehst Du? Der kaufte das Grundstück von der LPG und… na ja, und der  sammelte schon immer Autos. Was meinst Du, was der hier schon für einen  Zinnober veranstaltete! Fuhr alle Autos auf den Platz und… na ja, ich fragte  mich schon, wo die sind. Garage… soll es da hinten auch noch geben. Gar nicht  so dumm, der Kerl!"
Toni schaut ihn fragend an.
"Na, baut eine Garage, in  die man vielleicht wegen der teuren Autos einbrechen würde… und bringt die  Karren alle hier unten unter. Findet doch erst einmal keiner. Mal von seinen  Mietern im Hause abgesehen. Na ja, das ist was anderes, oder?" 
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